Die Russen in St. Pölten: Die Stichwunde im Spielzeugauto

Kultur

Wien war gefallen, die Rote Armee zog weiter gen Westen. Eine Widerstandsgruppe wollte St. Pölten kampflos den Sowjets übergeben. Doch der Plan wurde verraten: Am 13. April 1945 richteten die Nationalsozialisten zwölf Personen im Hammerpark hin. Ein völlig sinnloses Verbrechen. Denn schon in der Nacht vom 14. zum 15. April, vor genau 80 Jahren, wurde St. Pölten von sowjetischen Truppen eingenommen.

Das dortige Stadtmuseum wirft noch bis 28. Dezember einen „Blick in den Schatten“. So nennt sich eine exzellente Ausstellung über den Nationalsozialismus am Beispiel St. Pölten (der KURIER berichtete am 12. Februar). Diese endet aber nicht mit dem Zusammenbruch des Dritten Reichs, sondern spannt den Bogen über die Nachkriegszeit samt Wiederaufbau bis zum Staatsvertrag.

Drei Wochen Frontstadt

Direktor Thomas Pulle konnte dabei auf seine Ausstellung vor zehn Jahren zurückgreifen, die dem Schicksalsjahr 1945 gewidmet war. Im Katalog von damals liest man über die „Eroberung“ der Sowjets: „Nach kurzen, aber schweren Kampfhandlungen befreiten die Truppen der Roten Armee das Stadtzentrum von den faschistischen Truppen, die in Richtung Dunkelsteinerwald abgedrängt wurden.“

Stadtarchiv St.Pölten

Ab Juli 1944 wurde die Industriestadt St. Pölten bombardiert: Blick in die Lederergasse 

Als „Befreiung“ konnten viele der noch verbliebenen Einwohnerinnen und Einwohner die neue Situation nicht empfinden, sie sahen die „Besatzung“ eher als „Besetzung“. Denn das seit Juli 1944 schwer bombardierte St. Pölten war nun für drei Wochen Frontstadt. Die sowjetische Militäradministration beschlagnahmte neben den Kasernen eine Vielzahl von privaten Immobilien.

Badewanne als Latrine

Die Vier-Zimmer-Wohnung der Großeltern des Autors dieser Zeilen zum Beispiel diente der Kommandantur. Die Familie war in den Keller geflüchtet und hauste dort in geradezu panischer Angst. Der Roten Armee waren Schreckensmeldungen sonder Zahl vorausgegangen. Und so pappte man der Tante, knapp 20 und blond, alles Mögliche ins Gesicht, um sie unansehnlich zu machen.

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Nach ein paar Tagen oder Wochen – in der Erinnerung war die Zeit im Keller geradezu unendlich – durfte die Familie wieder in ihre nun völlig verwüstete Wohnung. Und kam aus dem Staunen nicht heraus. Die Badewanne war als Latrine verwendet worden: wie die Klomuschel randvoll mit Exkrementen. Das Bildnis der Großmutter als junges Mädchen, nun durchschossen, ließ sich später doublieren, also restaurieren. Doch manche Wunde heilte nicht, die Traumatisierung blieb: Noch immer ist das blecherne Spielzeugauto der Mutter durchstochen vom Messer eines Russen.

Thomas Trenkler

Das Blechauto der Mutter des Autors: Durchstochen von einem Russen 

Die erste Zeit nach der „Befreiung“ war, so erfährt man in der Ausstellung im Stadtmuseum, geprägt von Plünderungen und Vergewaltigungen durch Angehörige der Roten Armee. In der Schau vor zehn Jahren (die weit mehr ins Detail gehen konnte) wurde u. a. der Bericht des Gesundheitsamts von Ende Juli 1945 ausgestellt, das seinen Betrieb Ende April im Bauamt wiederaufgenommen hatte: „2.430 Fälle von Vergewaltigungen und 543 Fälle von Geschlechtskrankheiten mit venerischer Infektion wurden registriert.“ In nur drei Monaten.

Stadtmuseum St. Pölten

In der Ausstellung „Blick in den Schatten“ zu sehen: Gemaltes Verkehrsschild  auf Holz in deutscher und russischer Sprache aus 1945

Allmählich kehrte Ordnung ein, die sowjetische Militärführung ahndete die Verbrechen an der Zivilbevölkerung. Die Russen malten kunstvoll Panzer und Sowjetsterne an die Barackenwände des Lagers in Spratzern – …read more

Source:: Kurier.at – Kultur

      

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