Ein kleines Meisterstück: Reinspergers Selbstermächtigung

Kultur
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Knapp 60 Jahre ist es her, als Peter Handke das Theater im Sturm eroberte – mit der schreiend komischen „Publikumsbeschimpfung“. Geschult an Ludwig Wittgenstein, hatte er aber noch weitere Stücke im Talon. Zwei davon waren so etwas wie die beiden Seiten einer Münze: In „Kaspar“ hat dieser nur einen Satz zur Verfügung – und ist den Einflüsterern ausgeliefert, die sich mit einem „Du“ an ihn wenden: „Du hast einen Satz zum Bejahen und zum Verneinen. Du hast einen Satz zum Verleugnen.“

In „Selbstbezichtigung“ hingegen heißt es: „Ich habe Einflüsterungen nachgegeben.“ Handke beschreibt die Entwicklung vom „Ich bin auf die Welt gekommen“ bis zum Erwachsensein in einer von Regeln dominierten Gesellschaft, in der man schul-, wehr-, zahlungs- und aussagepflichtig wird. In der man sich aber widersetzen kann.

In diesem Stück beginnt jeder Satz mit „Ich“. Es handelt sich aber nicht um einen Monolog: Handke verlangte eine Sprecherin und einen Sprecher, damit es nicht zu einer Verknüpfung von Text und Person kommt. Zumal es viele widersprüchliche „Ich“-Sätze gibt. Doch Dušan David Pařízek negierte die Anweisung: Zusammen mit Dramaturg Roland Koberg schnitt er die Vorlage auf Stefanie Reinsperger zu. Und blieb trotzdem ganz nah an Handkes Intentionen.

Die Produktion hatte vor genau zehn Jahren im Volx, damals die Nebenspielstätte des Volkstheaters, Premiere. Ab 2017 war sie in Berlin zu sehen. Und nun ist sie zurück in Wien: Reinsperger, seit 2024 wieder Burgensemblemitglied, wurde am Samstag im Akademietheater frenetisch mit Standing Ovations gefeiert. Es waren fulminante 70 Minuten gewesen.

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Frucht der Erkenntnis

Handkes Erwähnungen der Erbsünde gibt es in dieser unheimlich dichten Fassung nicht. Aber Stefanie Reinsperger verteilt vor Beginn der Vorstellung ans Publikum Apfelspalten. Und so naschen (fast) alle von der Frucht der Erkenntnis. Auch der Schauspielerin auf der Bühne wird, nachdem sie sich von der seitlichen Baby-Position aufgerichtet hat, gewahr, dass sie mehr oder weniger nackt ist: Sie streift sich ein weißes Hemd über.

Tommy Hetzel

Nach einiger Zeit, „gesellschaftsfähig geworden“, lotet sie die Spielfläche – ein quadratisches Podest – aus: Sie nimmt sich die Freiheit, die Grenzen im Wortsinn zu überschreiten. Die Entwicklung des „Ichs“ führt Pařízek parallel zu Reinspergers Karriere: Auf die weiße Stoffbahn im Hintergrund werden Ausschnitte aus gemeinsamen Arbeiten (wie „Der zerbrochne Krug“ und „Die lächerliche Finsternis“) projiziert. Beim Videoclip „Selbstbezichtigung“ aus 2015 verdoppelt sich das Geschehen.

Grundlegend handelt es um einen Akt der Selbstermächtigung – und Reinsperger spielt alle ihre Atouts aus: vom entwaffnenden Humor bis zum tiefen Dialekt. Sie rappt wild, sie singt „I’m perfectly incomplete“ (arbeitend am Meisterstück). Und sie erlaubt sich, bevor sie in den männlichen Dreiteiler geschlüpft ist, einen feministischen Einschub. Handke dürfte sanft schmunzeln über die Dreistigkeit.

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Source:: Kurier.at – Kultur

      

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