Richard Cockett: „Neue Ideen wurden in Wien im Streit geboren“

Kultur

Der britische Autor Richard Cockett beschreibt, wie Wien die moderne Welt erfand – ihre guten und ihre schlechten Seiten.

„Zu wahrscheinlich mindestens 99 Prozent hat Donald Trump keine Ahnung, dass er aus einem Wiener Palast regiert“. So schätzt Autor Richard Cockett das ein. Aber fairerweise muss man sagen, dass auch Cockett selbst das noch nicht so lange weiß. Mar-a-Lago, „dieser grauenvolle Ort in Florida“, ist jedenfalls eine der Errungenschaften eines ehemaligen Wieners, die dem britischen Schriftsteller Beweis dafür sind, dass im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Wien „die moderne Welt erfand“. Das ist der Untertitel von Cocketts Buch „Wien – Stadt der Ideen“. (Molden Verlag)

Joseph Urban, ein Architekt, der bereits 1911 in die USA ausgewandert war, zeichnete verantwortlich für das Design von Trumps Protzanwesen. Urban war aber vor allem mit seinen ersten modernen Filmkulissen einer von vielen Wienern und Wienerinnen, die dem klassischen Hollywood ihren Stempel aufgedrückt haben. „Fred Zinnemann, Billy Wilder, Fritz Lang, viele Komponisten, angefangen von Erich Korngold – man kann praktisch sagen, dass die Goldene Ära Hollywoods von fünf Wienern gemacht wurde, die so taten, als wären sie keine Wiener“, sagt Cockett und lächelt ein wenig verschmitzt. Denn das ist vielleicht eine Übertreibung – oder auch wieder nicht. Denn wenn man Cocketts Buch liest, erstaunt tatsächlich die geballte Fülle der Ideen, die Kunst, Wissenschaft und Alltag heute prägen, die von jemandem stammen, der oder die in Wien geboren wurde oder gelebt hat.

Aha-Erlebnisse

Dass die „Globalisierung“ dieser Ideen einen tragischen Hintergrund hat – nämlich die Vertreibung der Juden und damit eines Gutteils der Intelligenzija –, verhehlt Cockett nicht.

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Das Wien der Jahrhundertwende hat bereits eine genaue Betrachtung erfahren. Carl Emil Schorskes „Fin de Siècle Vienna“ hat ein nachhaltiges Bild gezeichnet und etwa die Preise für Klimt-Bilder für immer verändert. Doch Schorske konzentrierte sich 1979 auf die Kunstwelt. Cockett erweitert den Horizont in seinem Buch massiv. Denn bei seinen Recherchen hatte er eine Menge Aha-Erlebnisse: „Wann immer ich mir ein Thema genauer angesehen habe, stand am Ende, oder besser gesagt am Anfang ein Wiener oder eine Wienerin.“

Von Orgasmus bis Küche

Deswegen geht das Spektrum in „Stadt der Ideen“ von Wilhelm Reichs Orgasmusforschung über die Österreichische Schule der Nationalökonomie (Ludwig von Mises), die moderne Sozialforschung (Paul Lazarsfeld), die Markt- und Motivforschung (Herta Herzog und Ernest Dichter), den Kritischen Rationalismus (Karl Popper), die Hormonforschung (Eugen Steinach), die Kunststoffinnovation (Hermann Mark), die Bildstatistik (Otto Neurath) bis zur Einbauküche (Margarete Schütte-Lihotzky). Und das ist jetzt wirklich nur ein kleiner Ausschnitt. Vieles mag man schon wissen, einiges wird überraschen, aber Cocketts Leistung ist, erstmals einen außergewöhnlich kompakten, aber nicht oberflächlichen Überblick über die Vielfalt zu geben.

Doch warum war ausgerechnet Wien und nicht vielleicht London oder Paris so ein fruchtbarer Boden für neue Denkmuster in jener Zeit? Cockett sieht die Antwort unter anderem in der kontinentalen Topografie des habsburgischen Vielvölkerstaat: „Die am weitesten entfernten Bürger in der heutigen Ukraine konnten Wien immer noch vergleichsweise leicht erreichen – London war für jemanden aus Kolonialstaaten praktisch aus der Welt. Das Zusammentreffen der Einwanderer aus den verschiedenen Reichsteilen, vor allem assimilierter Juden, …read more

Source:: Kurier.at – Kultur

      

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