
Wie soll man leben, wenn sich der Sturm und der Drang längst in Nachhall aufgelöst haben? Wenn man Ehrenrunden in den Erinnerungen dreht und sich dabei selbst zusieht und nur noch die Frage bleibt, wo dieses ganze Leben eigentlich hin ist? Wenn man aber doch noch irgendwie da ist und zu zornig und zu gescheit, um sich aufs Abstellgleis stellen zu lassen? Die Antwort ist, klar, „keine Ahnung“.
Aber immerhin gibt es jetzt den allerbesten Soundtrack für die Lebensphase, in der man mit ausführlichen Einkäufen am Bauernmarkt die Zeit totschlägt und hofft, dass man spätestens am Parkplatz wieder etwas zu fühlen beginnt.
Jarvis Cocker hat nämlich seinem Projekt Pulp noch ein Album abgerungen, es heißt „More“ und ist ganz wunderbar gelungen.
Es gibt, natürlich, kein unangenehmeres Kulturprodukt als ein neues Album, bei dem gestandene Männer in gerührte Erinnerungen an die große Zeit der Popmusik verfallen. Meine Güte, wie toll war das damals doch, als die britischen Bands Pulp und Oasis und Blur alle Reifegrade des Männlichseins in kurz angebundene Töne verpackt haben, heißt es dann gleich.
Wer sich da nicht „ja, eh“ denkt, war nicht dabei. Denn das Blöde und das Gute an den großen Zeiten ist natürlich, dass sie immer in der Vergangenheit liegen.
Und in der Differenz zwischen Damals und Heute passiert Schreckliches, man wird erwachsen, auch wenn das keiner will, wie Cocker zu Recht im dritten Song des neuen Albums, „Grown Ups“, festhält: Es ist der bittere Dreischritt des Lebens, zuerst peinlich auf erwachsen zu tun, es irgendwann zu sein, und am Schluss gar nicht mehr zu wissen, was das eigentlich heißen soll.
Spätestens da verliebt man sich wieder in diesen geistreichen, immer irgendwie sarkastischen Erzählton Cockers. Der wunderbare Poseur hat mit 61 eine neue Haltung eingenommen: Er ist der weise alte Mann, der nicht, wie so viele, ins Bösartige nachgebittert ist, sondern sich mit offener und freundlich interessierter Verzweiflung sowie wacher Geisteskraft in den Halbheiten umblickt, die das Leben inzwischen so ausmachen.
Halbdunkel
Selbst die Sonnenfinsternisse sind nämlich irgendwann nur noch halbe, bei denen es halt ein bisserl dunkler wird als sonst. Bei so mancher Anekdote vergisst man mittendrin, warum man sich in sie hineinverirrt hat. Und selbst wenn man beim Reden draufkommt, dass man gerade mit Jesus spricht, ist es irgendwie okay.
Von ihm wünscht man sich einen langsamen Tanz statt eines langsamen Todes.
„More“ vertont eine der entscheidenden Differenzierungen unserer Zeit, nämlich die zwischen Nostalgie und Wehmut: Die Nostalgie nach einem vermeintlich besseren Früher erstickt die Gesellschaften; die Wehmut danach, wie hell das Feuer in einem selbst einmal gebrannt hat, ist hingegen eine überaus produktive Kraft.
Gründe für Wehmut gibt es genug. Die gescheiterten Beziehungen, die Hoffnungen, die dadurch enttäuscht wurden, dass sie erfüllt wurden. Die Tatsache, dass man nicht mehr in die Anzüge von damals passt. Dies alles füttert nun neue Songs, die so klingen, wie Pulp heute klingen sollen.
Ist es nicht Zeit, dass wir zu leben anfangen, ruft Cocker, singt Schräges über Sex, bevor er sich noch mal schnell versichert, wie man „Liebe“ buchstabiert.
Am Schluss dann der Sonnenuntergang, und es ist …read more
Source:: Kurier.at – Kultur