
Viele despotische Herrscher traten einst als Hoffnungsbringer und Reformer an. Der britische Autor Gideon Rachman kennt viele dieser „starken Männer“ getroffen – und erklärt, warum sie so wurden.
Gideon Rachman hat sie befragt, kritisiert und analysiert: Der außenpolitische Chefkommentator der Financial Times hat von Putin abwärts die meisten Autokraten dieser Welt getroffen – und über sie sein Buch „The Age of the Strongmen“ (deutsch: „Die Welt der Autokraten) geschrieben. Im KURIER-Interview spricht der Brite über die Wahlen in der Türkei, Putins Ende und Trumps Wiedererstarken.
KURIER: Der türkische Staatschef Erdogan wird am Sonntag wahrscheinlich wiedergewählt. Warum wählen Menschen Politiker wie ihn, obwohl sie ihre Freiheiten massiv einschränken, ihnen vielleicht sogar das Wahlrecht wegnehmen?
Gideon Rachman: In der Türkei sind die Wahlen zwar frei, aber unfair. Führende Oppositionelle sitzen im Gefängnis, ebenso viele Journalisten – in der Türkei sind es mehr als in China. Außerdem ist die Türkei eines der 50:50-Länder: Autokraten wie Erdogan provozieren Kulturkriege, die führen zu Spaltung – sie identifizieren ein „Wir“ und ein „Sie“. Das „Wir“ sind alle außerhalb der Großstädte, die anderen sind die liberalen Kosmopoliten. Das schlägt sich in Wahlergebnissen nieder: Die Wahl Biden gegen Trump endete 51 zu 49, das Brexit-Referendum 52 zu 48, und in der Türkei wird es auch so eng werden.
Erdogan galt einst als Reformer, Putin auch. War das nur Wunschdenken des Westens? Oder haben sich die beiden verändert?
Ein bisschen von beidem. Erdogan hatte immer eine Agenda, die wir nicht sehen wollten: Er war von Anfang an Islamist. Als er 2003 – im Jahr des Irakkriegs – ins Amt kam, suchte der Westen verzweifelt nach Freunden in der muslimischen Welt, die sowohl authentisch muslimisch als auch demokratisch sein konnten. Dabei sagte er selbst, Demokratie sei ein Zug, mit dem man fährt, bis man am Ziel ist. Mit anderen Worten: Die Demokratie ist nur etwas, das man nutzt.
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Gibt einen Punkt, an dem gewählte Autokraten nicht mehr aus dem Amt gejagt werden können? Bei Erdogan scheint es so.
Es wird immer schwieriger, weil sie das System verändern. Orban ist das beste Beispiel: Er hat anfangs Wahlen fair gewonnen, aber mit einer so großen Mehrheit, dass er alles umbauen konnte und die Medien kontrollieren konnte. Das sehen wir auch in Israel: Die Menschen reagieren deshalb so stark auf Netanjahus Politik, weil sie aus Orbans Drehbuch stammt.
Über Narenda Modi schrieben Sie das sogar selbst, nicht?
Ja, das war damals sehr verlockend. In Indien fehlte es an Führung, Modi wurde von der Wirtschaft unterstützt. Starke Führer haben anfangs oft den Rückhalt von dort – auch bei Putin dachten die Wirtschaftseliten , er würde das Land stabilisieren. Erdogan war eng mit einigen der größten türkischen Wirtschaftsgruppen verbunden.
APA/AFP/PETER NICHOLLS
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Source:: Kurier.at – Politik