
Oppositionsführer Kılıçdaroğlu versuchte, mit Hetze gegen Flüchtlinge den Abstand zu Erdoğan aufzuholen. Ist ihm das gelungen?
Die Enttäuschung wog schwer. „Ich bin wirklich deprimiert. Ich will meine Heimat nicht verlassen, aber wenn alles so bleibt, wie es ist, kann ich nicht länger hier bleiben“, schilderte die Studentin Gizem aus Istanbul dem KURIER wenige Tage nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahl vor zwei Wochen.
Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu war zu dem Zeitpunkt kurzzeitig aus der Öffentlichkeit verschwunden, meldete sich nur via Twitter zu Wort. Dort postete er, um seine Anhänger nicht komplett verloren zurückzulassen, ein Video aus seinem Büro, in dem er klarstellte, „Ich bin hier“, und mit der flachen Hand auf den Tisch schlug. Rückblickend betrachtet leitete dieser energische Schlag auf die Tischplatte wohl den harten Richtungswechsel ein, den er in den darauffolgenden Tagen einschlug.
Als Kılıçdaroğlu in die Öffentlichkeit zurückkehrte, fiel es schwer, den Oppositionsführer wiederzuerkennen. Vorbei war es mit dem ruhigen, besonnenen „Anti-Erdoğan“, dem türkischen „Gandhi“, der seine Botschaften aus seiner Küche schickte und Einheit und Konsens propagierte. Das Herz, das er zuvor bei all seinen Auftritten mit den Fingern geformt hatte, war Vergangenheit.
In den vergangenen zwei Wochen gab sich der 74-jährige CHP-Politiker nationalistischer, energischer und reißerischer als je zuvor, setzte mit dem Versprechen, „alle 10 Millionen syrischen Flüchtlinge im Land“ (die UN spricht von 3,9 Millionen) zurückschicken zu wollen, vor allem auf das Thema Migration. Den bisherigen Wahlspruch auf den Plakaten, „Der Frühling wird kommen“, ließ er beinhart ersetzen durch „Syrer werden gehen! Entscheide!“
Nationalismus als Helfer
Zwar hatte Kılıçdaroğlus sozialdemokratische CHP bereits vor der Stichwahl einen starken nationalistischen Einschlag – wie fast alle Parteien in der Türkei. Doch sein Ton erinnert plötzlich an jenen des Ultranationalisten Ümit Özdağ von der Rechtsaußen Kleinpartei Zafer Partisi, deren offizielle Unterstützung sich Kılıçdaroğlu nach der Wahl gesichert hat. Mit ihrer Hilfe will er jene drei Millionen Wähler abgreifen, die in der ersten Runde für das Bündnis des Ultranationalisten Sinan Oğan gestimmt hatten, der aber Präsident Erdoğan unterstützt, sowie die rund acht Millionen Nichtwähler zur Urne zu bewegen.
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Kılıçdaroğlu holte sich Unterstützung vom Ultranationalisten Ümit Özdağ von der Rechtsaußen Kleinpartei Zafer Partisi.
Dass er dafür von liberalen Anhängern und Kollegen aus seinem „Sechserbündnis“ kritisiert wurde, nahm er bewusst in Kauf, sagt Cengiz Günay, Direktor des Österreichischen Instituts für internationale Politik (oiip): „Migration ist das Thema, das die Menschen über Parteien- und die ethnischen Grenzen hinweg mobilisiert. Kılıçdaroğlus Kalkül dabei ist, dass ihn die liberalen Wähler dennoch unterstützen – weil sie keine Alternative haben.“ Sein Plan dürfte aufgehen: Die prokurdische, linksliberale HDP etwa kritisierte den Zusammenschluss, warb aber weiterhin für ihn.
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Fragt man in den Kreisen der Opposition, wird man beinahe überwältigt von der Hoffnung auf einen Überraschungssieg, die dort herrscht: „Wir werden es schaffen, nochmal alle demokratischen Kräfte zu vereinen. Wir sehen uns nach der Wahl, um unseren Sieg zu feiern“, schreibt ein Mitarbeiter von Kılıçdaroğlu an den KURIER.
Ein Sieg der Opposition scheint …read more
Source:: Kurier.at – Politik