
Am 9. Mai klingen die Handys der Russen pausenlos. „S dnjom Pobedy“ („zum Tag des Sieges“) gratulieren sie einander. Für die Russen war der 9. Mai über Jahrzehnte der wichtigste Feiertag überhaupt. Da wurde im Bolschoitheater getanzt, am Roten Platz gebechert, und wenn die Schützen vor der Kremlmauer ihre Salven in die Luft ballerten, spürten alle die kollektive Erleichterung: Wir hier im Osten dürfen feiern, wir haben Hitler besiegt, und nicht er uns. Wir sind die Sieger. Wir sind die Guten.
Heute ist dieses Gefühl weg. Erleichterung spürt in Moskau keiner mehr, wenn Putin seine Atomsprengköpfe über den Roten Platz fahren lässt und in die Menge winkt, neben ihm die letzten Weltkriegsveteranen aus den 1940ern. Vor ein paar Jahren stand neben ihm noch Angela Merkel, Freund und Feind von einst Schulter an Schulter, und die Armeekapelle erinnerte mit der „Ode an die Freude“ an die gemeinsame Überwindung des Grauens.
Heute ist ganz Moskau mit dem Wort „Sieg“ zugekleistert, und den Stechschritt-Soldaten schauen nur Politiker aus China und Nordkorea zu, die neuen Freunde Russlands. Die Feinde von damals, das sind Putins Feinde von heute. Und die Panzer rollen wieder nach Westen.
Die Geschichte verdreht
Seit 1945 war das Kriegsende in der UdSSR und später in Russland zentraler Teil der großen Nationalerzählung. Breschnew, der in den 1960ern das Tauwetter einleitete und vorsichtig den Mantel des Schweigens über den Verbrechen Stalins lüftete, machte den 9. Mai zum Mittelpunkt der Erinnerungskultur: Da konnte sich die UdSSR gemeinsam mit dem Rest der Welt hinter dem großen „Nie wieder“, mit dem Sowjets und Alliierte die größte Ära der Entmenschlichung beendeten, versammeln.
Moskau verband so das Angenehme mit dem Nützlichen. Die UdSSR bastelte sich eine neue Identität zurecht, die ihre eigenen Verbrechen überdeckte: Stalin hatte seine Macht ja ebenso über Leichen errichtet wie Hitler; die Schätzungen der Zahl seiner Opfer, die er foltern, erschießen oder in Gulags verrotten ließ, gehen in die Millionen. Aber der Sieger hieß nun mal Sowjetunion, und so war Hitler das größere Monster. „Ein Staat, der sich durch den Sieg über Hitler legitimierte, brauchte keine Rechenschaft mehr über die Revolution von 1917, den Bürgerkrieg, den Gulag oder den Großen Terror abzulegen“, schrieb der deutsche Historiker Jan C. Behrends dazu.
Diese Methode hat Putin heute wiederbelebt. Nach einer kurzen Zeit der Aufarbeitung unter Gorbatschow und Jelzin begann er bereits in den 2000ern, den Siegeskult von damals wiederauferstehen zu lassen. Im ganzen Land tauchten plötzlich Sticker auf, die statt des „Nie wieder“ eine neue Losung trugen: „Wir können das wiederholen“ stand auf Autos, Litfaßsäulen oder Plakaten, daneben ein Bild von Hammer und Sichel, die ein Hakenkreuz vergewaltigen. Gemeint war damit, dass Russland wieder kämpfen, wieder siegen müsse, denn – so erzählten es Putins Propagandisten – der Krieg habe nie aufgehört.
Angst vor dem Aufstand
Putin änderte nur die Bedrohungskulisse. Die Kreml-Propaganda zielte nicht mehr auf deutsche Nationalsozialisten, sondern auf die angeblichen „Faschisten“ hinter den Umstürzen in den Nachbarstaaten, in Georgien und der Ukraine. Dass bei den dortigen Revolutionen die Menschen auf die Straßen gingen, weil sie genug von Unterdrückung und Korruption hatten, hatte …read more
Source:: Kurier.at – Politik