Der deutsche Jesuitenpater Klaus Mertes, der 2010 die innerkirchliche Missbrauchsdebatte ins Rollen brachte, über die Entwicklungen seither, die Agenda von Papst Franziskus und die bleibende Einheit der Kirche.
KURIER: Sie haben 2010 durch einen offenen Brief an ehemalige Schüler der damals von Ihnen geleiteten Schule eine breite Debatte über Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen ausgelöst. War das rückblickend eine innerkirchliche Zeitenwende?
Klaus Mertes: Ja, zweifellos.
War Ihnen damals schon bewusst, was Sie da auslösen würden?
Nein, das war mir natürlich nicht klar. Klar war mir aber, dass das Thema des Missbrauchs viele grundlegende Fragen des kirchlichen Selbstverständnisses berührt, und auch allgemein im schulischen Bereich. Dass es diese Wirkung haben würde, konnte ich nicht ahnen.
War von Anfang an klar, dass dieser Brief öffentlich wird?
Nein, ich wollte die Betroffenen direkt anschreiben – es war bewusst kein offener Brief, damit die Adressaten nicht das Gefühl hätten, das sei zu einem Gutteil Öffentlichkeitsarbeit.
Es wurde also geleakt …
Ja, einer der Adressaten hat das an die Presse durchgestochen.
Wenn das nicht passiert wäre, hätte sich vieles anders entwickelt …
Sicherlich.
Dann war es also aus Ihrer Sicht letztlich ein Glücksfall, dass das geleakt wurde? Oder wären Sie ohnedies irgendwann an die Öffentlichkeit gegangen?
Vielleicht. Aber meine primäre Aufgabe als Schulrektor war es, mit den Betroffenen in Kontakt zu treten. Die darüberhinausgehenden Fragen wären dann zu einem späteren Zeitpunkt gekommen.
Von Anfang an wurde darüber diskutiert, ob die kirchlichen Missbrauchsfälle systemisch bedingt sind, oder ob es sich um ein je individuelles moralisches Versagen handelt. Wie sehen Sie das?
Ich habe bereits in meinem Brief von 2010 angesprochen, dass es hier systemische Fragestellungen gibt. Für die Betroffenen sind dennoch zunächst Aufklärung, Entschädigung, Hilfe wichtig. Und Prävention – womit wir dann schon bei den systemischen Fragen sind. Da Institutionen immer Systeme sind, geht es beim Missbrauch in Institutionen immer auch um systemische Fragen.
kurier/Martin Stachl
„Da Institutionen immer Systeme sind, geht es beim Missbrauch in Institutionen immer auch um systemische Fragen.“
Missbrauch gab es ja auch in nichtkirchlichen Einrichtungen. Wie unterscheidet sich da die Kirche von anderen Institutionen?
Ich spreche gerne vom katholischen „Geschmack“. Der zeichnet sich durch zweierlei aus: Das eine ist die Überdrehung der Autorität durch ihre Sakralisierung; und das andere ist im Kern die Homophobie.
In Deutschland hat man den Prozess des „Synodalen Weges“ als Reaktion auf die Missbrauchsfälle gestartet. Wurden hier die richtigen Antworten gegeben?
Für mich wurden die richtigen Fragen gestellt. Ich war skeptisch, ob das Setting funktionieren kann. Ich hatte zwei Sorgen: dass Hoffnungen geweckt werden, die dann nicht erfüllt werden können; und dass ein zu schneller und direkter Zusammenhang zwischen den systemischen Fragen und dem Missbrauch hergestellt wird. Die Frage etwa nach der Rolle der Frau in der Kirche stellt sich unabhängig von der Missbrauchsthematik. Und auch in einer reformierten Kirche wird es wieder Missbrauch geben. Es gibt kein System ohne dieses Risiko.
Haben Sie Verständnis für die Kritiker des Synodalen Weges, die sich hier zum Teil sehr deutlich auch öffentlich gegen das Unterfangen gestellt haben?
Ich versuche es zu verstehen – aber ich teile deren Argumente und Befürchtungen nicht. Ich bin der Ansicht, dass die katholische Sexualmoral in einigen Punkten …read more
Source:: Kurier.at – Politik