Ursula Krechel: Kaiser Nero und die beste aller Mütter

Kultur

Scharfsinnig erzählt Ursula Krechel anhand dreier Frauenleben von politischer Gewalt und einer immer empörungsbereiteren Gesellschaft

Eva Pataraks Leben ist nicht 1A, nur 2B. Wie die Lage des Essener Kräuterladens, in dem sie arbeitet. „Die heilsamen Kräfte der Natur“ soll sie verkaufen, selbst kann sie sich keines der angepriesenen „innovativen Nahrungsergänzungsmittel“ leisten. Sie arbeitete als Alleinerzieherin in Teilzeit, als sie Stunden aufstocken wollte, war das nicht mehr möglich, die Pension wird mickrig ausfallen. Demnächst wird das Geschäft zusperren und wohl einem weiteren Nagelstudio weichen.

Eva Patarak bezeichnet sich selbst als „fade Blonde“, Typ Strickweste, eine Frau mittleren Alters („nur bei Männern spricht man vom besten Alter“). Daheim hockt der immer fetter werdende Sohn, der das Studium geschmissen hat, den ganzen Tag vor dem Computer und bekommt den Mund nur auf, um sich über fehlende Essiggurken im Kühlschrank zu beschweren. Zu rebellieren beginnt Eva Patarak aber erst, als sie bemerkt, dass die seltsame Frau, die immer zu ihr in den Laden gekommen ist, sie anscheinend ausspioniert hat, um über sie zu schreiben. Darf denn das sein? Es muss doch ein Gesetz dagegen geben, dass man einfach so zur Romanfigur wird? Sie schreibt an die Justizministerin.

Optima mater!

„Sehr geehrte Frau Ministerin“ heißt der neue Roman der 1947 geborenen Berliner Schriftstellerin und Lyrikerin Ursula Krechel. Krechel verwebt darin drei Frauenleben, erzählt von den undankbaren (Mutter)rollen, die ihnen im Lauf der Geschichte zugeschrieben wurden, und von politischer Gewalt.

Evas Geschichte, so stellt sich heraus, wird von der von extremen Regelschmerzen („scheinschwanger mit einem Maulwurf?“) geplagten Lateinlehrerin Silke Aschauer erzählt, eben jener Frau, die im ersten Teil des Romans ständig Evas Kräuterladen besucht und im zweiten Teil zunächst als Ich-Erzählerin übernimmt, bevor sie abwechselnd von Eva und anderen Müttern schwieriger Söhne erzählt. Allen voran Agrippina, der, so erzählten es die Geschichtsschreiber, schrecklichen Mutter des ebenfalls schrecklichen römischen Kaisers Nero. Er ließ seine Mutter, die ihm auf den Thron geholfen hatte, zur „Optima mater!“, zu „besten Mutter!“ ausrufen. Und dann erdolchen.

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Leise erinnert Krechels Rehabilitierungsversuch Agrippinas und anderer historischer Frauenfiguren wie Dido, der Gründerin Karthagos, an Christa Wolfs Ehrenrettung der Medea. Auch die britannische Heerführerin Boudica kommt vor. In einem nicht unkomischen imaginären Treffen mit Agrippina fragt sie diese, warum sie ihren Sohn Nero nicht besser erziehen ließ.

Blutig war die Geschichte damals, blutig ist sie heute. Gewalt gegen Frauen war immer Thema. Die titelgebende Ministerin wird, man ahnte es, Opfer eines Attentats. Ihr Ziel war es, „das Vertrauen in den Rechtsstaat zu stärken“. Der bröckelt indes, die allgegenwärtige Wut wächst.

Krechels elegant gebauter, sprachlich bestechender Roman erzählt vielschichtig von einer immer empörungsbereiteren Gesellschaft. Da ist die Blutspur, die sich vom Mord an Agrippina bis zum Anschlag auf die Politikerin zieht. Daneben bleibt auch Raum für die feinen Linien, die den Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts andeuten. Von verkommenden Zentren deutscher Großstädte über versteckte Alltagsarmut. Überall Wutbürger, Entsetztbürger, Traurigbürger. Ihnen gegenüber ohnmächtige Demokratien.

Cover

Ursula Krechel:
„Sehr geehrte Frau Ministerin“
Klett-Cotta.
360 Seiten.
27,50 Euro  

KURIER-Wertung: 5 von 5 Sternen

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Source:: Kurier.at – Kultur

      

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