Filmregisseur Joachim Trier: „Zärtlichkeit ist der neue Punk“

Kultur
US-ENTERTAINMENT-NEON-FILM

Die alte Kaffeetasse der Großmutter mag vielleicht scheußlich aussehen, aber dem Enkelkind bedeutet sie sehr viel. Sie hat sentimentalen Wert, auf gut Englisch: „Sentimental Value“. Regisseur Joachim Trier nannte seinen neuen Film „Sentimental Value“ (derzeit im Kino) und gewann damit heuer in Cannes den Großen Preis der Jury.

„Ich bin ein großer Musikfan“, erzählt der norwegische Filmemacher im Pressegespräch und denkt über die Bedeutung seines Filmtitels nach: „,Sentimental Value‘ erinnert an einen alten, melancholischen Jazz-Standard wie beispielsweise ein Song von Cole Porter. Und es suggeriert das Gefühl des Entgleitens.“

Viele Dinge können entgleiten, findet Trier: „Zeit entgleitet. Die Möglichkeit, sich mit seinen Eltern zu versöhnen. Oder eine lange Karriere als Filmemacher zu haben. Kinder werden größer und entgleiten … “ An dieser Stelle muss Trier ein bisschen lachen, damit es nicht gar zu dramatisch wird. Aber tatsächlich ließe sich die Liste endlos fortsetzen.

APA/AFP/MICHAEL TRAN

Regisseur Joachim Trier: „Zärtlichkeit ist der neue Punk.“

„Sentimental Value“ erzählt vom (Ent-)Gleiten der Zeit und davon, wie Generationen kommen und gehen. Was sie verbindet, sind nicht nur die familiären Bande, sondern auch ein wunderschönes, altes Holzhaus mit Dachgiebel und roten Fensterrahmen. Rissen laufen durch die Zimmerwände, als wollten sie den inneren Zusammenbruch seiner Bewohner zeigen. Seit über hundert Jahren steht es mitten in Oslo und ist der Sitz einer (unglücklichen) Familie.

Der alte Patriarch

Nun ist das Haus „leicht“ geworden, wie eine Stimme aus dem Off erzählt, denn die letzte Bewohnerin ist gestorben. Ihre beiden erwachsenen Töchter kehren ins Haus zurück, um Abschied zu nehmen und auszuräumen. Und plötzlich steht ihr Vater vor der Tür, der die Familie vor vielen Jahren verlassen hat, um seine Karriere als erfolgreicher Filmemacher zu verfolgen.

  Miami, Accra, Abu Dhabi: Wohin sich die Kunstwelt heute ausrichtet

Er heißt Gustav Borg und ist mittlerweile in einem Alter, wo das filmische Lebenswerk in Retrospektiven auf Festivals gezeigt wird. Einen neuen Film gibt es schon lange nicht mehr, doch nun hat er ein Projekt in Planung. Seine älteste Tochter, eine erfolgreiche Theaterschauspielerin namens Nora, soll die Hauptrolle übernehmen.

Doch die denkt gar nicht daran. Ihre Wut auf den egoistischen Alten ist einfach zu groß. Während die jüngere Tochter Agnes mit dem Vater Frieden geschlossen hat, befindet sich die depressive Nora in einem Zustand großer Ablehnung.

Joachim Trier hat – wie immer – ein exzellentes Schauspiel-Ensemble um sich versammelt. Renate Reinsve, der Trier mit seinem umwerfenden Frauenporträt „Der schlimmste Mensch der Welt“ zu internationalem Durchbruch verholfen hat, spielt die instabile Nora. Als alter Patriarch mit Alkoholproblem steht ihr der schwedische Schauspiel-Star Stellan Skarsgård gegenüber. Mit zärtlicher Regiehand entwirrt Joachim Trier die schmerzhaften Familienbande und legt lindernd verletzte Gefühle frei.

Der neue Punk

Mit dem Satz „Zärtlichkeit ist der neue Punk“ hat Joachim Trier in Cannes für Aufmerksamkeit gesorgt. „Ich bin in den 90er-Jahren aufgewachsen“, sagt Trier, mittlerweile 51-jährig: „Ich war Skater, Punk und politisch aktiv. Ich finde immer noch, dass Kunst laut und stark auf Ungerechtigkeiten aufmerksam machen soll. Gleichzeitig aber frage ich mich, was heute eine radikale Position im Kino sein kann. Und ich glaube, in Zeiten der Polarisierung und Aggression brauchen wir Zärtlichkeit, Empathie und Hoffnung, und die Fähigkeit, den anderen zu verstehen.“

Filmladen

Schwesternliebe: …read more

Source:: Kurier.at – Kultur

      

(Visited 1 times, 1 visits today)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.