Eine stellvertretende Schuldirektorin erfährt mit 61, dass sie sozial unterbegabt sein soll. Das hört sie zum ersten Mal.
Dies ist eine unspektakuläre Geschichte. Warmherzig, voll Menschenkenntnis und eben deshalb auch ein bisserl boshaft. Stellenweise sehr komisch und gerade richtig melancholisch.
Es geht um Gail, 61, seit elf Jahren stellvertretende Mittelschul-Direktorin. Gail ist kein Sensibelchen, weder sich noch anderen gegenüber. Man könnte auch sagen: Mit ihrer Sozialkompetenz ist es nicht weit her. Als ihr ihre Chefin und Beinahe-Freundin eröffnet, dass sie eine Herz-OP vor sich hat und sich danach in den Ruhestand zurückziehen wird, fällt Gail nichts anderes ein, als zu fragen, ob sie dann Direktorin wird. Wird sie nicht. Denn es mangelt ihr … an Einfühlungsvermögen.
Gail ist nicht empathielos. Höchstens patschert. Und nicht gerade der Typ Mensch, der mit seiner Offenheit anderer Leute Herzen im Sturm erobert. Davon hatte sie bisher allerdings keine Ahnung. „Dass ich keine Sozialkompetenz besäße, hat mir noch niemand gesagt. Jedenfalls nicht so direkt. Meine Ex-Schwiegermutter hatte mir zwar ein Büchlein mit dem Titel Manieren für Ahnungslose geschenkt, aber das war ja wohl nur pro forma gewesen.“
Für die emotionale Intelligenz sorgt Ex-Mann Max, der aus Baltimore zur Hochzeit von Tochter Debbie angereist ist. Rasend geschickt in gesellschaftlichen Belangen ist Max aber auch nicht. Er arbeitet ehrenamtlich im Tierheim und hat zur Hochzeit eine Katze mitgebracht, die sich mitten in der Trauerarbeit über das verstorbene Ex-Frauchen befindet. Weshalb Max sich und das Tier nun bei Gail einquartiert. Die es für ausgeschlossen hält, dass die Katze langfristig bei ihr einzieht. Es versteht sich von selbst, dass die Katze andere Pläne hat.
Viel spektakulärer wird’s dann nicht mehr. Die Hochzeit geht mehr oder weniger ohne Fettnäpfchen über die Bühne, auch wenn Max in seinem in letzter Minute gekauften Anzug aussieht wie ein Clown und Gail keine Ahnung hat, was ein „Schönheitstag“ sein soll. Man hält es aus, dass die Schwiegerfamilie schöner, eleganter, reicher als man selbst ist und trifft Jugendlieben, die sich erstaunlich gut entwickelt haben. Man geht mit dem Ex-Partner spazieren und fragt sich, was eigentlich so passiert ist in den vergangenen Jahrzehnten, die man auch als „Leben“ zusammenfassen könnte.
Als im Raum steht, der Schwiegersohn habe ihre Tochter möglicherweise kurz vor der Hochzeit betrogen, gelingt es den Eltern, behutsam mit diesem vermeintlichen Wissen um zugehen.
Die 83-jährige US-Literatin Anne Tyler schreibt leise Geschichten über unauffällige Leute. Ihre Helden sind keine Menschen großer Gesten. Ihre Liebenswürdigkeit liegt darin, auch nach Jahren der Trennung zu wissen, was der andere im Restaurant bestellen wird. Oder still im Wohnzimmer nebeneinanderzusitzen und der Katze beim geräuschvollen Knacken von Trockenfutter zuzuhören.
Anne Tylers weiß um die Untiefen im Leben ihrer Protagonisten. Ihr großes schriftstellerisches Genie ist es, darin die Liebe zu erkennen.
Cover
Anne Tyler:
„Drei Tage im Juni“. Übersetzt von Michaela Grabinger.
Kein & Aber.
208 S. 23,50€
Source:: Kurier.at – Kultur