
Den nächsten Almwanderurlaub wird man sich nach dieser Lektüre vielleicht überlegen. Hier regnet’s in Schaffeln, es ist saukalt und insgesamt ungemütlich. Vor Bränden ist man auch nicht sicher: Frisches, feuchtes Heu kann zu gären beginnen und sich entzünden. Und die Tiere?
Statt süßen Streichel-Geißlein wie Heidis Schwänli und Bärli wohnt auf dieser Alm ein alter, grantiger Bock namens Hubsi. Eine Hütte gibt’s zwar, aber die ist ziemlich unwirtlich. Feuer wird selten gemacht, man muss Holz sparen. Die Decken, die einen wärmen könnten, stinken nach Ziegenbock. Und die Fenster werden auch nicht geputzt – aus Rücksicht auf die Weberknechte, die vor Angst ihr achtes Bein abwerfen könnten, das dann einsam weiterzucken würde. Und selbst wenn Marie jetzt schon schlecht ist vor Hunger: Den Honig voller Mücken, den man ihr anbietet, greift sie lieber nicht an.
Marie ist auf der Flucht. Aus der Stadt ist sie hier herauf gekommen durch den finsteren Wald, blutverschmiert, verängstigt, verzweifelt. Und der Designermarken-Pulli ist auch kaputt.
Wovor sie geflüchtet ist, bleibt lange im Dunkeln. Ebenso, warum ihre Cousine Johanna hier heroben als Eremitin lebt und vor Jahrzehnten aufgehört hat zu sprechen. Johannas Freude über den Besuch aus der Stadt ist enden wollend, schließlich verjagt der den Kauz und verschreckt auch alle anderen Tiere– die die einzigen Wesen sind, mit denen Johanna zu tun haben will.
Irgendwann aber kann Marie sich nicht mehr zurückhalten, sie spürt, alles muss jetzt raus. Sie offenbart sich der Cousine und ist erstaunt, dass diese ohnehin alles weiß.
„Wild wuchern“ heißt der zweite Roman der 1982 in Eisenstadt geborenen, in Wien lebenden Autorin Katharina Köller. Sie erzählt darin eine Emanzipationsgeschichte: Das hübsche Stadtfräulein, das es allen, insbesondere Ehemann und Vater, recht machen will, bricht aus ihrem goldenen, mit Luxusgütern und Gewalt gefüllten Käfig aus. Sie reißt (sich) aus und schaut, wohin sie wuchert. Woher das Blut, das an ihr pickt, wirklich stammt, wird erst am Schluss geklärt.
Dass eine unwirtliche Alm hier zum Refugium wird, ist ein schönes Bild dafür, dass Freiheit einen Preis hat und Verantwortung oft ungemütlich ist. Interessant ist aber auch die Sache mit Selbst- und Fremdwahrnehmung. Marie fühlt sich ihr Leben lang schuldig für eine Tat, die sie glaubt, als Kind beinahe begangen zu haben – hätte sie der Großvater, ein Almöhi-Verschnitt, nicht rechtzeitig weggerissen. Und fortan seine Lieblingsenkelin, die tierliebe, menschenscheue Johanna zur alleinigen, rechtmäßigen Alm-Erbin und Heidi gemacht. Wer ist Täter, wer Opfer?
Einfühlsam und klug beschreibt Köller, wie sich Menschen in Käfige, diesfalls goldene, aus Zuschreibungen begeben und oft ein Leben lang nicht herausfinden. Ein stellenweise sehr beeindruckendes Buch. Das Lektorat hätte allerdings sorgfältiger sein können. Wie so oft bei Österreichern, die bei deutschen Verlagen publizieren, gibt es hier sprachliche Ungereimtheiten. Etwa angedeutete österreichische Umgangssprache, die nicht konsequent verteidigt wird. Mehrfalls „fasst“ die Protagonistin Dinge an, wo sie auch „greifen“ könnte. Und der Wurstelprater wird hier zum Würstelprater. Liebe Kollegen von den deutschen Lektoraten: Der Wiener Wurstelprater wurde nach dem Wurstel, dem Kasperl, und nicht nach den Würsteln benannt.
Cover
Katharina Köller:
„Wild wuchern“
Penguin.
208 Seiten.
23,50 Euro
Source:: Kurier.at – Kultur