Eine turbulente Hausbegehung der Staatsopern-Spiestätte NEST: Die „Götterdämmerung“ von Nesterval als bittere Dystopie
Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“, eine Tetralogie, dauert 15 Stunden. „Nestervals Götterdämmerung“ hingegen nur etwas mehr als zweieinhalb, wiewohl Martin Finnland, Kopf der queeren Theatergruppe, in den letzten Teil der überbordenden Germanensaga auch die Vorgeschichte – Wotan trinkt vom Quell der Weisheit, reißt einen Ast aus der Welt-Esche und schnitzt sich seinen Speer – hineingepackt hat.
Eine „Reader’s Digest“-Fassung darf man sich allerdings nicht im neuen Spielort der Wiener Staatsoper, NEST genannt, erwarten. Aber dafür, nahe an Wagners Intention, eine kritische Auseinandersetzung mit der Zivilgesellschaft. Martin Finnland erzählt retrospektiv über das Zerbrechen von Solidarität in der Gegenwart. Denn man schreibt das Jahr 2038: Der Klimawandel hat Österreich versteppen lassen – und Wien wurde zur Geisterstadt. Während Banden ihr Unwesen treiben, kämpfen zwei Clans um den Ring, der Verheißung verspricht.
Die Familie Nesterval rund um Alberich und Hagen, einem FPÖler, ist besonders perfide: Unter der Marke „Nestléval“ hat es das letzte saubere Wasser in Plastikflaschen abfüllen lassen. Verkauft wird es zu Wucherpreisen. Zudem soll Fasold ein Luxusresort mit dem Namen „Donaugold“ errichten. Das Publikum steht nun vor der Entscheidung: Will es ein Überleben für ein paar Auserwählte – oder für viele in bescheidenen Verhältnissen?
Treppauf, treppab
Finnland und Dramaturgin Teresa Löfberg folgen dabei durchaus dem Plot von Wagner. Zusammenreimen muss man sich die Geschichte aber schon selbst. Denn es gibt (abgesehen von Urd aus dem Off) 16 Charaktere – und jedem kann man durch den Abend folgen. Oder man switcht zu einer anderen Figur, wenn sich Personengruppen kreuzen. Oder wenn im Saal alle zusammenkommen, um zu sehen, wie Hagen hinterrücks Sigfrid ermordet.
Wiener Staatsoper / Sofia Vargaiová
Sie singt auch aus der Partie der Sieglinde: Anne Wieben als Wotan
Bespielt wird jeder Raum, Gang und Winkel des neuen Theaters: vom zweiten Unter- bis zum dritten Obergeschoß. Andauernd geht es (zu viel) treppauf, treppab. Auch das Pissoir nutzt man – für einen discoartigen Walkürenritt und als Bunker. Händewaschen geht aber nicht: Die Ressource Wasser ist verdampft.
Wie gewohnt interagiert das Ensemble mit dem Publikum (das allerdings bei der Uraufführung etwas verhalten reagierte). Es gibt daher nur selten echte Spielszenen, eher Kommentare zu den Ereignissen aus verschiedenen Blickwinkeln. Das ist zumeist reizvoll, Eva Deutsch als niederösterreichischer Landeshauptmann Krimhild vermochte am Freitag blendend zu unterhalten.
Allerdings ist die Geschichte noch viel komplexer als jene der Buddenbrooks, die in der Nesterval-Version ein Prater-Imperium geleitet haben. Und so werden nur Wagnerianer alle Querverweise verstehen. Musikalisch hingegen dürften sie enttäuscht werden: Das 14-köpfige Bühnenorchester unter der Leitung von Hartmut Keil darf nur ein paar Instrumentalstücke erklingen lassen, das Vorspiel z. B. und den Trauermarsch. Es wird zudem nur ein einziges Mal gesungen (aus der Partie von Sieglinde, die als Figur gestrichen wurde) – von Wotan-Darstellerin Anne Wieben. Und how shocking: Nesterval hat nicht auf explizite Szenen und nackte Haut verzichtet! Manche waren wohl pikiert, das Gros aber begeistert: Die Truppe hat wieder eine tolle Ensembleleistung abgeliefert. Über das exakte Timing staunt man jedes Mal erneut.
Source:: Kurier.at – Kultur