„Das Große Heft“ im Akademietheater: Zuletzt kommt die Moral

Kultur

Ágota Kristófs Romantrilogie um „Das große Heft“ als Sprech- und Hörtheater über Zwillinge, die im Krieg um Moral und Menschlichkeit ringen

Klar kann man es über die verminte Grenze schaffen, sagen die Zwillinge und kichern, man braucht nur jemanden, der vorangeht.

Also schicken sie den eigenen Vater als Erstes, da schon der letzte lebende Verwandte, die Mutter und die Babyschwester waren vor ihren Augen im Krieg umgekommen. Über die Leiche des Vaters aber steigt dann nur einer der beiden Buben; er flieht ins Nachbarland und lässt den Bruder zurück. Sie, einst unzertrennlich einer feindseligen Welt gegenüberstehend, leben und sterben danach als Fremde.

Ágota Kristóf lässt in ihrer Romantrilogie „Das große Heft“, „Der Beweis“, „Die dritte Lüge“ Zwillingsbuben im Krieg groß werden – und zugleich das Menschlichsein neu erfinden: Wo finden die Kinder, bei der herzlosen Großmutter aufwachsend, Moral, innen oder außen, wenn die Erwachsenen derweil alles Schreckliche tun, das man sich vorstellen kann?

Bruno Cathomas und Seán McDonagh kommen im Akademietheater als rohes, ineinander fließendes Bubenmaterial auf die Bühne.

Tommy Hetzel

Hand in Hand stehen sie da und sagen, schöne Schauspielerübung, jedes Wort, jeden Satz gemeinsam. Es ist ein hypnotisches Theatersprechen, ganz ähnlich wie bei „Johann Holtrop“ im Haupthaus, das der neue Burgtheaterchef Stefan Bachmann ebenfalls aus Köln mitgebracht hat.

Sie erzählen, vor einem wabernden, sich hin und wieder aufbäumenden Soundtrack, ihre Menschwerdung. Ansprachelos, vorbildlos, umgeben von Verfall und Verzweiflung, errichten sich die beiden in dem, was sie einander erzählen, eine brutale Parallelmoral, schreiben sie nieder in einem großen Heft.

  Wenn man keine Visionen hat, bereut man es vielleicht am Totenbett

Es ist ein Heft voll des Menschlichen, Allzumenschlichen, voll Arbeit und Hunger und Übervorteilung und Missbrauch und Tod.

Tommy Hetzel

All dem stehen sie fragend gegenüber, all das machen sie mit, untrennbar, eins. Bis sie zu große Schuld auf sich laden; dann plötzlich bricht das Band, dann verwenden sie auf einmal andere Wörter, um gleichzeitig das Gleiche zu sagen. Dann lassen sie die Hand des anderen los, und dann muss der eine, zurückbleibende Bruder, McDonagh, für sich sprechen lernen, nachdem der andere Bruder geflohen ist.

Hörtheater

Mit einem lauten Knall beginnt es; die beiden werfen eine Mauer um. Am Ende bauen sie aus deren Steinen einen Erinnerungsgarten. 

Tommy Hetzel

Dazwischen gibt es packendes, knapp zweistündiges Sprech- und Hörtheater (Regie: Mina Salehpour), das aus der zunehmend brutalen Erzählung lebt, in der die anderen Figuren aus dem Wort, aus geringster Stimmmodulation erschaffen werden und im Wort vernichtet.

Da ist man natürlich an einem der entscheidenden Kunstorte überhaupt, an jenem nämlich, an dem sich der Mensch durch Erzählungen seiner selbst versichert. Man erlebt, im eigenen Inneren, was Armut und Krieg und Flucht in denen zerstören, die das erleben, und denkt vielleicht, bevor man nach dem Schlussapplaus wieder das Handy zückt, noch kurz darüber nach.

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Source:: Kurier.at – Kultur

      

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