
Martin Haidinger nähert sich der NS-Zeit über Gespräche mit Zeitzeugen aus der Froschperspektive an.
An Büchern über die NS-Zeit herrscht wahrlich kein Mangel. Martin Haidinger, Ö1-Wissenschaftsredakteur und Historiker, hat dennoch ein weiteres vorgelegt. Ein absolut lesenswertes, sei sogleich hinzugefügt. Der begnadete Geschichte(n)-Erzähler begibt sich auf die Spur der „Faszination Hitler“.
Zu Wort kommen unterschiedlichste Zeitzeugen, die, wie es eingangs heißt, „ihre Geschichte aus der Froschperspektive erzählen“. Dabei zeigt sich auch immer wieder, wie politische und persönliche Befindlichkeiten zusammenspielen, ideologische Grenzen fließend und eindeutige Zuordnungen nur bedingt möglich sind.
So etwa der 21-jährige Heinz Pohl, der Nazi-Propagandamaterial auf der Straße verteilt, aber keine Berührungsängste gegenüber einem jungen Kommunisten hat. Einer von Pohls Volksschulkollegen war übrigens Teddy Kollek (1911–2007), der spätere legendäre sozialdemokratische Bürgermeister von Jerusalem (1965–1993); im Realgymnasium freundete sich Pohl mit dem jüdischen Dichter und Widerstandskämpfer Jura Soyfer (1912–1939), Schöpfer des „Dachauliedes“, an: „Wir waren beide Außenseiter, da wir die Unsportlichsten der Klasse waren.“
Auch der Vielschichtigkeit des österreichischen Widerstands, die eine simple Schwarz-Weiß-Zeichnung verbietet, widmet sich der Autor. Es bliebe nicht viel übrig, wenn man unter den NS-Gegnern nur jene „gelten ließe, deren Vorstellungen mit unseren heutigen Wertvorstellungen übereinstimmten“, zitiert Haidinger den Historiker Wolfgang Neugebauer.
Am Beginn des Buches steht die dramatische Schilderung der Ermordung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß. Haidinger bewertet dessen Regime differenziert als „zwischen Mussolinis Italien und (etwas später) Francos Spanien“ stehend – „eine merkwürdig indifferente und in sich nicht abgeschlossene Rolle“.
Hitler und Dollfuß
Interessant auch der Vergleich des Autors zwischen Hitler und Dollfuß: „Hitler wollte die Geschichte mit den modernsten Mitteln seiner Zeit vernichten, Dollfuß sie in barockem Geist und mittelalterlicher Form wiederauferstehen lassen […]“
Den Abschluss des – ein wenig in seine unterschiedlichen Teile zerfallenden – Buches bildet das Kriegstagebuch eines einfachen Soldaten, Erich Hustoles (1924–2006). Eine beklemmende Lektüre, die Elend, Angst und Leere spürbar werden lässt. Immerhin diesfalls mit gutem Ende. „Der Krieg des Erich Hustoles war vorbei. Ein Schicksal wie das Millionen anderer.“
Und die Lehre aus alldem? Es sei ein Irrtum, anzunehmen, „dass solches oder Ähnliches nur damals und nur in Deutschland, Österreich oder Europa geschehen konnte und unter anderen Vorzeichen nicht wieder geschehen könnte“.
Das, in der Tat, macht es schwierig. Denn die Gefahren von morgen werden wohl anders aussehen als der Faschismus von gestern.
Ueberreuter
Martin Haidinger: „… und dann wurden sie Nazis“, Ueberreuter, 240 Seiten, 25 Euro
Source:: Kurier.at – Kultur