Paul Lynch: Wenn das Böse in den Alltag einsickert

Kultur

Paul Lynch erzählt den Absturz einer europäischen Gesellschaft

Sie tut einem mit jeder Seite mehr leid; unfassbar leid. Sie muss so viel ertragen. Sie, das ist Eilish Stack. Wissenschafterin, vierfache Mutter, Ehefrau. Eines Abends läutet es an der Tür. Zwei Herren von Irlands neuer Geheimpolizei wollen mit ihrem Mann reden – Larry ist Gewerkschafter, er organisiert Lehrerproteste.

Eigentlich harmlos. Jetzt nicht mehr. Und so fängt es an. Irland zerfällt. Stück für Stück wird alles im Alltag ein wenig intoleranter, aggressiver, autoritärer. Bald verschwindet Larry in einer kafkaesken Bürokratie. Später taucht Stacks ältester Sohn unter – die Regierung will den Schüler zum Wehrdienst einziehen.

Es gibt viele Dystopien und grandiose Bücher über Diktaturen.

Dieses hier ist insofern besonders, als Booker-Preisträger Paul Lynch die Alltagsperspektive einer Mutter einnimmt.

Während das Böse in die Gesellschaft einsickert, muss sich Eilish nicht nur um ihren verschwundenen Mann, sondern gleichzeitig um ein Baby, drei Schulkinder und deren tägliche Sorgen kümmern – von der Hausübung bis zum Einkaufen.

Die Orthografie ist gewöhnungsbedürftig (Lynch verzichtet z. B. auf Anführungszeichen), vermittelt aber oft die Atemlosigkeit der Gequälten.

Nach Larrys Verschwinden folgt die Sippenhaftung. Das beginnt damit, dass Eilish keinen neuen Reisepass erhält.

Der Fleischhauer, ein Mann, bei dem sie seit Jahrzehnten einkauft, bedient sie irgendwann nicht mehr – Regimegegner bekommen keine Würste.

Und dann ist da noch Eilishs Vater. Der ehemalige Wissenschafter wird zum Pflegefall, Lynch macht ihn zum Propheten.

In seinem ersten Auftritt sagt der Alte zu seiner Tochter: „Die Partei versucht zu verändern, was du und ich Wirklichkeit nennen; (…) wenn du sagst, eine Sache ist eine andere, und du sagst es oft genug, dann ist es auch so, und wenn du es immer und immer wieder sagst, dann akzeptieren die Leute es als wahr – ein alter Gedanke, natürlich (…), aber du siehst, wie es zu deiner Zeit passiert und nicht in einem Buch. “

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2025 muss die Niedertracht, die in Diktaturen herrscht, tatsächlich nicht in Büchern studiert werden. Sie ist täglich im Internet und im Fernsehen zu beobachten.

Paul Lynch hat den Absturz einer europäischen Gesellschaft dennoch erzählt. Es ist grauenhaft. Es ist aktuell. Und es ist große Literatur.

Cover

Paul Lynch: 
„Das Lied des Propheten“
Ü.: Eike Schönfeld. Klett-Cotta. 
320 S. 27,50 €

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Source:: Kurier.at – Kultur

      

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