Die Schau „Aber hier leben? Nein danke“ in München zeigt, wie politisch der Surrealismus war – und wie er sich dabei aufrieb
In Wendezeiten, so viel lässt der kulturgeschichtliche Hausverstand konstatieren, gedeiht das Absurde. Althergebrachte Sinnhülsen können das, was in der Welt vorgeht, nicht mehr richtig fassen, man stöpselt sich hybride, teils komische, teils monströse Formen zusammen oder flüchtet sich in etwas, das die Band Talking Heads einst auf den Slogan „Stop Making Sense!“ brachte.
In der Kunstgeschichte begegnet uns derlei zwar schon früh – man denkt an antike Janusköpfe, mittelalterliche Mischwesen und Hieronymus Boschs Höllenvisionen. Doch so richtig zur Hochform lief die Kunst im Gefolge des Ersten Weltkriegs auf, die entsprechenden Bewegungen hießen Dadaismus und Surrealismus.
bpk / CNAC-MNAM / image Centre PHonorarfrei zur Ausstellung „Aber hier leben ? Nein Danke“, Lenbachhaus München, bis 2. 3. 2025Victor Brauner, Totem de la subjectivité blessée II (Totem der verwundeten Subjektivität II) / (Totem of Wounded Subjectivity II), 1948. Legs de Mme Jacqueline Victor Brauner en 1986. Centre Pompidou, Paris, Musée national d’art moderne – Centre de création industrielle. © VG Bild-Kunst, Bonn 2024. Foto: Image Centre Pompidoubpk / CNAC-MNAM / image Centre PAlles zerfließt
Letzterer wird heute gern als traumwandlerische Formfindung einiger narrischer Sigmund-Freud-Adepten verharmlost (Zerfließende Uhren! Tintenkleckse! Pfeifen, die gar keine Pfeifen sind!), und tatsächlich hatte das erste Surrealistische Manifest, das im Vorjahr sein 100-Jahr-Jubiläum feierte, primär die Reise ins Unbewusste im Blick.
Eine Ausstellung im Münchner Lenbachhaus erinnert nun aber noch bis 2. März daran, dass die Strömung, die den Boden für so ziemlich alles bereitete, was danach kam, auch hochgradig politisch war. Dabei beschränkt sich die Schau nicht in der Dokumentation jener Aktivitäten, die Surrealisten und ihre Gefolgsleute gegen die faschistischen Tendenzen ihrer Zeit setzten: Spürbar aus der Perspektive heutiger Diskurse gedacht, kehrt sie auch die frühe Parteinahme der Surrealisten gegen den Kolonialismus hervor und feiert ihr Aufbegehren gegen Regeln aller Art.
Jersey HeritageClaude Cahun (Lucie Schwob) + Marcel Moore (Suzanne Malherbe), Ohne Titel (Propaganda-Zettel) / Untitled (Propaganda leaflet), 1940-1945, Jersey HeritageJersey Heritage
So zeigt sie die Künstler*innen Claude Cahun und Marcel Moore, deren Identität man heute wohl „genderfluid“ nennen würde. Sie bildeten mit ihrer Selbstinszenierung eine Avantgarde bei der Verunklarung von Geschlechterklischees, arbeiteten aber auch im Widerstand und fertigten Anti-Nazi-Propaganda an.
Nebengleise
Die Vielzahl der Erzählungen überfordert in Summe – und doch ist der historische Blick auf die Widerborstigkeit dieser Kunst erhellend: Der Surrealismus, der als literarische Bewegung seinen Ausgang nahm, brachte schließlich einige der stärksten künstlerischen Statements gegen die Gewaltherrschaften des 20. Jahrhunderts hervor und war – mit politischen Pamphleten, satirischen Kommentaren und Benefiz-Aktionen – stets auch tagespolitisch aktiv.
Insbesondere der Spanische Bürgerkrieg (1936-39) erwies sich hier als Kristallisationspunkt: Der Weltausstellungspavillon von 1937, in dem Picassos Antikriegsbild „Guernica“ ausgestellt war, ist in der Schau als Modell rekonstruiert.
Michael Huber
Rekonstruktion des spanischen Pavillons auf der Weltaustellung 1937, Modell
Unterdrückt
Ebenfalls 1937 zogen die Nazis in Deutschland mit ihrer Schmähausstellung gegen „entartete Kunst“ zu Felde. Der Widerstandsgeist bereits emigrierter Künstler wurde mit dem Einmarsch der Nazis in Frankreich 1940 herausgefordert: Ein Fokus-Kapitel lenkt die Aufmerksamkeit auf das Internierungslager Les Milles in …read more
Source:: Kurier.at – Kultur