Bildungsforscher Lutz: „Wir müssen früh in die Familien gehen“

Politik

Wolfgang Lutz bedauert, dass der Bildungsminister bei der frühkindlichen Förderung nichts zu sagen hat. Er plädiert für eine radikale Reform, die auf die Entwicklung des Kindes vom ersten Tag an zielt.

Wolfgang Lutz ist ein österreichischer Demograf und Sozialstatistiker, der für seine Forschung zur Rolle von Bildung in der nachhaltigen Entwicklung bekannt ist. Im September 2024 wurde Lutz als erster Österreicher mit dem Yidan-Preis ausgezeichnet, dem weltweit höchstdotierten Bildungspreis, der seine Beiträge zur Bildungsforschung würdigt.

KURIER: Kürzlich beunruhigte das Ergebnis einer Bildungsstudie, wonach 29 Prozent der Erwachsenen in Österreich Probleme beim Lesen haben. Hat Sie das überrascht?

Wolfgang Lutz: Ja, das ist erschreckend. Die Studie hat ein recht großes Sample verwendet. Da geht es um grundlegende Fähigkeiten. Die Migration ist nur ein kleiner Faktor, etwa vier Prozentpunkte gehen auf das Konto der Zuwanderer.

Und was heißt das für uns als Volkswirtschaft? Werden wir tatsächlich immer schlechter?

Das ist kein gutes Zeichen. Wir wissen aus den PISA-Studien, dass rund 20 Prozent der Jugendlichen zur Risikogruppe gehören. Das sind Gruppen, die vermutlich nicht nur nicht positiv zur Entwicklung der Gesellschaft beitragen werden, sondern auch dem Sozialsystem zur Last fallen, sie kosten also. Was wenig bekannt ist: Eine schlechte Bildung führt nicht nur zu einem niedrigen Einkommen, sondern auch zur schlechteren Gesundheit, einer niedrigeren Lebenszufriedenheit. Bildung befähigt also für ein besseres Leben.

Die Politik muss also gegensteuern?

Auf alle Fälle. Mit einer radikalen Bildungsreform, die auf Entwicklung vom ersten Tag an zielt. Etwa, wie es die Finnen machen. Die haben in ihrem Eltern-Kind-Pass eben nicht nur wie wir rein medizinische Checks, sondern das „Neuvola“-System mit zusätzlichem entwicklungspsychologischem Check, einer Sozialberatung, und das alle paar Wochen im ersten Lebensjahr, danach etwas seltener. Die kommen ins Haus, schauen, wie es dem Kind geht, geben den Familien Gratis-Bilderbücher. Besonders für sozial schwache Gruppen war das ein enormer Anreiz für eine gute, frühkindliche kognitive und auch emotionale Entwicklung.

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Angenommen, Sie wären der neue Minister, der auf keine Koalitionspartner Rücksicht nehmen müsste. Was würden Sie als erstes tun? Das Problem fängt schon damit an, dass es aufgeteilt ist. Bei allem, was mit kindlicher Entwicklung zu tun hat, hat das Bildungsministerium nichts zu sagen. Da gehört ein gesamtgesellschaftlicher Entwurf her. Viele Ärzte finden es eine gute Idee, dass man den Eltern-Kind-Pass mit psychosozialen und entwicklungspsychologischen Aspekten verbindet. Das Problem ist, dass es anfangs Geld kostet, was momentan knapp ist. Die Statistik zeigt, dass wir schon jetzt fürs Schulsystem mehr Geld ausgeben als andere Länder. Das Ergebnis ist mager.

Was wären logische Reformen?

Eine ideologische Hemmschwelle liegt darin, dass man denkt, dass alles, was vor dem Kindergarten passiert, reine Privatsache ist. Das ist gerade bei bildungsfernen Kreisen fatal. Der Staat soll ja nicht manipulativ, sondern unterstützend eingreifen. Das finnische System ist da sozial ausgleichend, der Versuch, diesen Teufelskreis der Vererbung durch frühkindliche Förderung zu durchbrechen. Bei der Schule gibt es dann die Vermischung mit Landespolitik, sodass bei den Direktorenbestellungen nicht unbedingt die Besten zum Zug kommen. Da wird die Schule zum Spielball der politischen Pfründe. Was wir vielmehr brauchen: Lernen vom ersten Tag bis zum letzten Tag neu zu …read more

Source:: Kurier.at – Politik

      

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