
Auf der Potemkinschen Treppe spazieren wieder Menschen. Zwei Frauen machen ein Selfie vor dem berühmten Wahrzeichen Odessas. Hinter ihnen versinkt das Schwarze Meer in der Dämmerung; vor ihnen füllen sich die Lokale der Altstadt. Und für einen Moment, so scheint es, gleicht die ukrainische Hafenstadt an diesem Montagabend jeder anderen Metropole in Europa.
Nur Stunden später schlägt eine russische Drohne in ein Haus an der Promenade ein. Aufklärungsflugzeuge kreisen über der Region, fast die ganze Nacht über gilt Luftalarm. Für die Bevölkerung ist das traurige Routine: Seit Kriegsbeginn ist Odessa Ziel russischer Angriffe. Die Stadt beherbergt den größten Hafen der Ukraine, ist ein wichtiges wirtschaftliches und kulturelles Zentrum des Landes. Doch in diesem Dezember, dem vierten im Krieg, erlebt die südukrainische Region die schwersten Attacken seit 2022.
Tagelanges Blackout in Odessa
Sie richten sich vor allem gegen die Energieinfrastruktur. Lara (59) lebt nahe eines Umspannwerkes, das am ersten Dezemberwochenende massiv von den Russen attackiert wurde. „Es war der schlimmste Tag im Krieg. Unser ganzes Haus hat gebebt“, schildert sie. Auch Xenia hat in den letzten Tagen massiven Beschuss erlebt. Die 32-Jährige wohnt nahe des Hafens von Odessa, nur wenige hundert Meter vom Terminal entfernt. „Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt“, sagt sie und meint damit ihre Fenster, die schon 2023 zerstört wurden. Oder die ständig unterbrochene Strom-, Wärme- und Wasserversorgung in großflächigen Gebieten. Diese Woche wurde deswegen der Notstand ausgerufen.
Jetzt sitzt sie an ihrem Schreibtisch in einer Hilfsstation der Caritas, wo in diesen Tagen vor Weihnachten im Dunkeln gearbeitet werden muss. Die Laptops hängen an Powerbanks, die Mitarbeiter tragen Fleecejacken gegen die Kälte. In dem Zentrum erhalten Einheimische und Binnenvertriebene Unterstützung – von Rechtsberatung bis hin zu Lebensmittelpaketen. Xenia arbeitet hier als Psychologin. Wegen der verschärften Sicherheits- und Versorgungslage suchen derzeit wieder deutlich mehr Menschen Hilfe, sagt sie. Viele berichten von Traumata und Angststörungen.
Elisabeth Kröpfl
Die Potemkinschen Treppe verbindet den Hafen von Odessa mit der Altstadt.
„Millionen Menschen werden von diesem Krieg in Geiselhaft genommen“, sagt Wiens Caritas-Direktor Klaus Schwertner bei einem Besuch. „Man lernt niemanden kennen, der nicht in irgendeiner Form betroffen ist.“
Und plötzlich geht Luftalarm los
Aleksandra ist mit ihren beiden Enkeln aus dem besetzten Cherson nach Odessa geflohen. Was mit den Eltern von Maksym und Dariya geschehen ist, möchte sie nicht erzählen. Nur so viel: Die Geschwister lebten zwei Jahre in einem Waisenheim, bevor sie die Obhut übernehmen konnte. An diesem Nachmittag flitzen die beiden in einem Betreuungsprojekt für Binnenvertriebene, Kriegswaisen und Kinder von Soldaten umher, das auch von der Caritas Österreich finanziert wird.
Als auf den Smartphones die Warnsirenen ertönen, ziehen die Kinder routiniert Schuhe und Jacken an, sausen in den Schutzkeller. Dort stellen Betreuerinnen kleine bunte Stühle auf und verteilen Gummibärchen im Sesselkreis. Batterie-Girlanden spenden Licht.
Elisabeth Kröpfl
Die kleine Dariya weiß, was zu tun ist, wenn der Luftalarm ertönt.
Angriffe bei Nacht
Die meisten Angriffe, auch auf zivile Infrastruktur, passieren nachts oder in den Morgenstunden. Das Hochhaus, in dem Olena (44) in Odessa lebt, geriet im Juni unter Beschuss: Kurz vor Mitternacht schlug eine Drohne ein, zerstörte zehn Wohnungen, tötete zwei Nachbarn. Seitdem will Olena …read more
Source:: Kurier.at – Politik



