
Eine Woche dauern die Massenproteste nach der Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters bereits an. Der KURIER verbrachte die siebte Nacht inmitten der Demonstranten – und sogar im Rathaus.
Mit einem Knall peitscht die Tränengasgranate durch die Luft. Die Menge stiebt auseinander, einige beginnen zu rennen, kurz kommt Panik auf. Eine Wolke erhebt sich, sie brennt in der Lunge und in den Augen. Menschen beginnen zu husten. Dazwischen steht ein alter Mann, ohne Maske, und zieht an seiner Zigarette.
Der KURIER beobachtet all das aus dem Inneren des Istanbuler Rathauses. Hunderte Menschen haben hier kurz vor Mitternacht Zuflucht gesucht. “Das ist momentan der sicherste Ort”, erzählt eine Mitarbeiterin der Stadtregierung. “Dort draußen kann niemand die Zivilisten vor der Polizei schützen.”
Sieben Tage Protest, 1.400 Inhaftierte Demonstranten
Schon wieder sind an diesem Dienstagabend Zehntausende in den Istanbuler Saraçhane-Park gekommen. Trotz der Hundertschaft an Polizisten, trotz 1.400 festgenommener Demonstranten, trotz unzähliger Videos, die zeigen, wozu die Beamten fähig sind.
“Die Polizei genießt es, uns weh zu tun”, sagt ein junger Mann zum KURIER. Daneben erzählt eine Frau, ihr Bruder sei am Abend zuvor verhaftet worden. Man hört hier viele solcher Geschichten – trotzdem sind all die Menschen tags darauf wieder auf der Straße.
Johannes Arends
Ein Paar posiert mit Gasmasken. Die Demonstranten sind von Nacht zu Nacht besser ausgerüstet.
Es ist die siebte Nacht seit der Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu. Am vergangenen Mittwoch ließ Präsident Recep Tayyip Erdoğan seinen größten politischen Rivalen verhaften, am Samstag aufgrund fadenscheiniger Korruptionsvorwürfe ins Gefängnis stecken.
İmamoğlus Porträt hängt nun auf einem gewaltigen Banner von der Fassade des Istanbuler Rathauses – neben jenem des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk.
Johannes Arends
Atatürk gründete einst auch die sozialdemokratische Partei CHP, der İmamoğlu angehört und die diese Proteste federführend organisiert. Am Sonntag kürte die Partei ihren inhaftierten Bürgermeister gar zu ihrem Spitzenkandidaten für die nächste Präsidentschaftswahl.
15 Millionen Menschen sollen an der Abstimmung teilgenommen haben, weit mehr als die CHP Mitglieder hat – ein klares Zeichen des Trotzes an Machthaber Erdoğan.
“Ich dachte, ich sterbe”
“Das hier ist größer als İmamoğlu, größer als die CHP, größer als jeder, der hier heute auf der Bühne stehen wird”, sagt eine junge Demonstrantin am frühen Abend zum KURIER. “Es geht um unsere Zukunft. Wir wollen in einem demokratischen Land leben.” Sie ist Anfang 20, Studentin. “Ich kenne keinen anderen Regierungschef als Erdoğan.”
Die Frau ist vermummt, nur ihre Augen sind sichtbar. Das habe ihr ihre Freundin empfohlen, die bereits zum sechsten Mal bei den Protesten dabei ist.
Nur am Montag sei sie zu Hause geblieben, erzählt die Freundin, weil ihr ein Polizist in der Nacht zuvor aus nächster Nähe Pfefferspray ins Gesicht gesprüht habe: “Ich dachte, ich sterbe.” Durch die Skimaske sieht man, dass ihre blauen Augen noch immer leicht gerötet sind.
Johannes Arends
Straßenverkäufer verkaufen nicht nur Gegrilltes, sondern auch Atemschutzmasken, Milch und Medikamente an die Demonstranten.
Jede Nacht kommen die Demonstranten besser vorbereitet zurück. Viele von ihnen tragen Schutzausrüstung und Gasmasken, verteilen Milchpackungen und in Wasser aufgelöste Medikamente. Beides soll gegen die Folgen von Tränengas und Pfefferspray helfen.
Am Rande des Platzes stehen Straßenverkäufer, die all das auf ihren Rollwagen verkaufen. …read more
Source:: Kurier.at – Politik