Österreich befindet sich in einem „Stagnationsregime“, so Christian Helmenstein. Er warnt vor „monströsen Bürokratielawinen“ und sagt, woran sich die künftig Koalition wird messen müssen.
Die Konjunkturdaten sind „in ihrer Tragweite gar nicht zu überschätzen“, so der Chefökonom der Industriellenvereinigung, der einen rigorosen Kurswechsel einmahnt.
KURIER: Alexander Van der Bellen spricht von „Leistungsfeindlichkeit“ und „einer strukturellen europäischen Wirtschaftskrise“. Wie schlimm ist es, wenn der Bundespräsident die Dinge beim Namen nennt?
Christian Helmenstein: Es ist zu begrüßen, dass das Staatsoberhaupt sich geäußert hat, kommt dadurch doch der Ernst der Lage zum Ausdruck. Wir haben es nicht nur mit einer vorübergehenden konjunkturellen Schwächephase, sondern mit einer tiefgreifenden Transformationskrise – im Bereich der Energie und der Mobilität – und einer noch umfassenderen Strukturkrise zu tun, die wir in Österreich zum Teil ohne Not selbst hervorgerufen haben.
Was hat Österreich selbst verschuldet?
Die Lohn- und die Produktivitätsdynamik laufen auseinander. Dadurch sind die Lohnstückkosten bei Gütern und Dienstleistungen, die wir auf internationalen Märkten verkaufen wollen, viel stärker gestiegen als beispielsweise in Spanien oder Italien. Im Ergebnis hat Österreichs preisliche Wettbewerbsfähigkeit abgenommen und wir verlieren laufend Marktanteile. Das zweite Problem ist die monströse Bürokratielawine aus Brüssel. Mehr als 400 delegierte Rechtsakte sind in der EU noch in der Pipeline und werden entsprechende Auswirkungen haben.
Die Rechtsakte betreffen alle EU-Staaten.
Das stimmt, aber die Frage ist, ob wir die EU-Vorgaben gemäß Mindestanforderung oder überschießend umgesetzt haben. Häufig haben wir die EU-Standards übererfüllt – Stichwort Gold Plating.
Haben wir die Energiekrise in Österreich unterschätzt?
Österreich hat in besonderer Weise von der Verfügbarkeit günstigen russischen Erdgases profitiert. Lange Zeit wurde das Gas über Baumgarten in das west- und zentraleuropäische Netz eingespeist. Jetzt befindet sich Österreich am Ende des Verteilnetzes und ist auch deshalb mit den größten Preisanstiegen konfrontiert.
ÖVP und WKO wollten den wirtschaftlichen Kuchen größer backen. In einer Schnellschätzung geht das Wifo von einer stabil schwachen Konjunktur aus. Was backen wir überhaupt noch?
Seit 2008 und der Insolvenz von Lehman Brothers ist ein Strukturbruch in der österreichischen Wachstumsdynamik zu verzeichnen. Im Durchschnitt hat die heimische Wirtschaft seitdem nicht mehr das durchschnittliche Wachstumstempo erreicht, das wir vor Lehman hatten. Während der vergangenen Monate hatte ich stets die Sorge, dass wir es mit einem zweiten historischen Strukturbruch beim BIP-Wachstum Österreichs zu tun bekommen könnten.
Und, haben wir eine Zäsur?
Nimmt man die aktuelle Wifo-Prognose als Grundlage, ist genau dies eingetreten: Wir haben es mit einem weiteren Strukturbruch zu tun – und zwar bereits seit dem ersten Quartal 2020, können das aber erst jetzt statistisch festmachen. Der Befund ist in seiner Tragweite gar nicht zu überschätzen! Dass uns eine Stagnationsperiode bevorsteht, das ist kein Menetekel an der Wand, sondern bereits Realität. Wir befinden uns in einem Stagnationsregime. Daraus folgt auch das Wording, auf das sich anscheinend alle in der Politik geeinigt haben.
Sie meinen den Satz: Kein weiter wie bisher?
Ja, denn würden wir vergangenes Verhalten bei der standortpolitischen Gestaltung in Zukunft fortsetzen, dann erleiden wir ein italienisches oder japanisches Szenario. In Italien war während der ersten beiden Dekaden dieses …read more
Source:: Kurier.at – Politik