Mit dem Hamas-Terror habe das Problem eine neue Dimension erreicht, sagt ein Experte. Migration spiele eine Rolle, traditioneller Antisemitismus sei aber auch noch vorhanden
Binyomin Jacobs setzt auf deradikalisierende Worte in einer radikalisierten Zeit. „Das ist ein Warnsignal“, gibt der niederländische Oberrabiner zwar zu bedenken, doch kein Pogrom: Es sei schrecklich, was passiert sei, aber „wir sollten es nicht größer machen, als es ist“.
Hat der Rabbiner recht? Oder waren die jüngsten Ausschreitungen gegen israelische Fußballfans im Amsterdam nicht doch mehr?
Offizielle Statistiken deuten nämlich genau darauf hin: Die aktuellste Umfrage der Agency for Fundamental Rights (FRA) zeigt, dass jüdische Organisationen in der EU seit dem 7. Oktober 2023, dem Tag der Hamas-Terrorattacke gegen Israel – deutlich mehr antisemitische Vorfälle wahrnehmen mussten. Teilweise lag der Anstieg bei rund 400 Prozent. In Frankreich, wo die größte jüdische Gemeinde Europas zu Hause ist, gab es laut Regierungsbericht im ersten Quartal 2024 366 antisemitische Taten – ein Anstieg um 300 Prozent.
Antisemitische Parolen
„Europa erlebt eine Welle des Antisemitismus“, hielt auch Sirpa Rautio, Direktorin der FRA, vor kurzem fest. Österreich macht da keine Ausnahme: In der Leopoldstadt in Wien, dem jüdischen Herzen der Stadt, wurden im Mai Fassaden mit antisemitischen Parolen beschmiert, im Juni wurde das „Haus der Forschung“ ähnlich verunstaltet.
In Österreich sei es nach 1945 immer wieder im Zuge von Eskalationen im Nahen Osten zu einem Anstieg von Antisemitismus gekommen, dieser habe aber nach dem Hamas-Terror eine „neue Dimension“ erreicht, sagt der Historiker und Antisemitismus-Forscher Gerald Lamprecht. Er sei von einem starken Israel-Bezug geprägt.
Importiertes Problem?
Häufig ist von einem „importierten Antisemitismus“ die Rede, der mit muslimischen Einwanderern nach Europa kam. „Natürlich darf man über dieses Problem nicht hinwegsehen, es handelt sich jedoch beim ,importierten Antisemitismus‘ um einen politischen Begriff der eng mit einer generellen Abwehr von Zuwanderung verbunden ist“, sagt der Experte. Außerdem suggeriere er, es habe davor keinen Antisemitismus gegeben.
APA/ROLAND SCHLAGER
Antisemitismus-Forscher Gerald Lamprecht
Tatsächlich ist er aber tief verwurzelt. Dass die Zweite Republik nach 1945 nie eine echte Entnazifizierung erlebte, wirkt sich bis heute aus: Nazi gewesen zu sein war nämlich in der österreichischen Gesellschaft nach dem Holocaust kein Makel, stattdessen hielt man an dem „Opfermythos“ fest.
Mangelnde Aufarbeitung der NS-Zeit
Dafür sorgte die Politik, die um Wählerstimmen buhlte und den VdU, dem Vorläufer der FPÖ, den Weg ebnete. Das Nationalsozialistengesetz, das etwa Berufsverbote vorsah, wurde 1947 beschlossen und war 1948 schon wieder Geschichte. Danach ging es Schlag auf Schlag: 1949 durften die als Mitläufer eingestuften (minderbelastet) schon wieder wählen, 1957 bekamen ehemalige Nationalsozialisten ihre Jobs zurück – entgangene Entgeltzahlungen wurden nachgezahlt.
Von der Justiz kam auch wenig, das zur Aufarbeitung betrug. Während deutsche Staatsanwaltschaften bis heute NS-Verbrecher anklagen – so wurde 2022 eine 99-Jährige wegen 10.000-fachen Mordverdachts vor Gericht gestellt – stellte Österreich unter SPÖ-Justizminister Christian Broda Mitte der 1970er-Jahre alle Verfahren ein. Bis dahin war die Justiz aber ohnedies nicht wirklich interessiert an solche Prozessen: Nach der Einstellung der Sondergerichtsbarkeit (1945 bis 1955) kamen bloß 46 Personen wegen NS-Verbrechen vor Geschworenengerichte – 21 wurden freigesprochen.
Wo Kritik endet
Zurück in die Gegenwart: Da wird erbittert darüber debattiert, wo Kritik an Israels …read more
Source:: Kurier.at – Politik