Warum Angst vor Fremden ernst genommen werden muss, und es trotzdem eine Illusion ist, Zuwanderung auf Fachkräfte zu beschränken.
Dieses Interview ist Teil der KURIER-Serie “Angst vor der Zukunft?”, in der wir Expertinnen und Experten mit den brennendsten politischen Fragen für das neue Jahr konfrontieren. Der nächste Teil erscheint am 31. Dezember. Alle bisherigen Serien-Teile finden Sie hier.
Die Zahl der nach Österreich Flüchtenden sinkt – bis Oktober 2024 wurden rund 21.300 Asylanträge gestellt, ein Rückgang von 61 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Trotzdem bleibt Migrationspolitik eines der, für viele das entscheidende Thema bei Wahlen. Die Kriege und Regimeumbrüche im Nahen Osten tun dem keinen Abbruch.
Yaşar Aydın, Sozialwissenschafter für Türkeiforschung und Migration bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, betont, „Europa ist Migrationsbewegungen nicht ausgeliefert.“ Doch es brauche eine andere Migrationspolitik und in neues Verständnis von Identität.
KURIER: Müssen wir uns vor Migration fürchten? Vor dem „Verlust unserer Identität“, wie Populisten beschwören?
Yaşar Aydın: Angst ist nie ein guter Ratgeber. Aber sie ist verständlich: Es ist menschlich, dass man sich sorgt, wenn viele fremde Menschen auf einmal in ein Land kommen, ob Regierung und Behörden das im Griff haben und die Integration gelingt. Diese Ängste gab es immer. Man darf das Gefühl nicht unterschätzen, muss aber zwischen echter Angst und einer von Populisten instrumentalisierten, geschürten Furcht unterscheiden.
APA/AFP/SANTI PALACIOS
Ein Flüchtlingsboot mit Menschen aus Syrien und Bangladesch vor der Küste Libyens.
Von einem Verlust unserer Identität würde ich nicht sprechen – aber es findet eine Veränderung statt, die nicht ausschließlich auf Zuwanderung zurückzuführen ist. Auch Globalisierung und soziale Medien haben unsere Identität verändert. Wir brauchen aber jedenfalls ein inklusiveres Verständnis unserer kollektiven Identität, um Eingewanderte einzubeziehen.
Ist Migration oder gescheiterte Integration der Grund für diese Angst?
Ich glaube nicht, dass Integration in Deutschland oder Österreich gescheitert ist. Wir machen diese These an Einzelfällen fest, etwa an der Messerattacke eines Syrers in Solingen im Sommer. Solche Fälle bleiben im Kopf hängen. Aber das ist nur eine Facette, denken Sie an die Zehntausenden syrischen Ärzte, die in Deutschland arbeiten, was es für uns bedeute, wenn sie jetzt weggingen. Wir brauchen Migration aufgrund unseres demografischen Wandels.
Aus der Gastarbeitermigration in den 1960er-Jahren haben wir gelernt, dass man nicht davon ausgehen darf, dass Menschen in ihre Heimat zurückkehren, wenn sie hier Jahre verbracht und Kinder großgezogen haben, und dass es sofort Integrationsmaßnahmen braucht. Damals wurde toleriert, dass viele Gastarbeiter nicht Deutsch lernten – ein Fehler. Das haben wir bei der Flüchtlingskrise 2015 in Stück weit besser gemacht.
Was unbedingt angegangen werden muss: Uns fehlen in bestimmten Bereichen Arbeitskräfte, gleichzeitig leben hier Menschen, die nicht arbeiten dürfen. Die Integration von Fachkräften ist eine andere als von Menschen mit Fluchterfahrung, das ist klar. Aber auch Arbeit ist eine Integrationsmaßnahme.
Es ist illusorisch, zu glauben, dass wir Migration in Zukunft derart beschränken, dass wir nur ausgesuchte Fachkräfte aufnehmen. Wir werden uns nicht die Rosinen rauspicken können. Wir können auch nicht nur aus humanitären Gründen Menschen aufnehmen. Jede Gesellschaft hat das Recht, ein bisschen zu selektieren.
Wir glauben, jeder will nach Europa. Stimmt das?
Auch das ist ein falsches Bild …read more
Source:: Kurier.at – Politik