
Bekannt wurde die albanisch-britische Philosophin Lea Ypi, Professorin für Politische Theorie, mit ihrem autobiografischen Buch „Frei: Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“ über ihre Kindheit im autoritären, kommunistischen Albanien. Heute warnt sie vor dem Ethnonationalismus der Rechten, vor einem freiheitseinschränkenden Kapitalismus und davor, das autoritäre Russland zu isolieren.
KURIER: Sie sprechen sich gegen eine Isolation Russlands aus – eine provokante Meinung.
Lea Ypi: Russland ist kein kohärenter Block, genauso wenig wie Europa. Es gibt viele Widersprüche innerhalb des Landes. Eine Isolation birgt das Risiko, progressive und kritische Elemente zu unterbinden und zu antagonisieren. Ich bin vielmehr der Meinung, dass Europa die Aufmerksamkeit auf die prorussischen Kräfte innerhalb Europas lenken sollte, denen eine Isolation Russlands für die eigene Erzählung am meisten nutzen würde. Wir sollten uns darüber Sorgen machen, wie Demokratien bereits untergraben werden – durch ethnonationale, rückwärtsgewandte, autoritäre Sichtweisen.
Argumentieren Sie auch aufgrund Ihrer eigenen Erfahrungen im kommunistischen, autoritären Albanien so?
Kulturelle Boykotte, von Universitäten, Musik, Kultur halte ich für schädlich. Das sind die kritischsten Räume einer Gesellschaft. Wenn man diese Institutionen isoliert, sägt man an dem Ast, auf dem man sitzt. Gleichzeitig berauben wir uns selbst eines Zugangs darüber, was in der Gesellschaft vor sich geht.
In Ihrem jüngst erschienenen Buch „Aufrecht“ zitieren Sie Ihre Großmutter, die sich trotz ihres Lebens in einem autoritären Regime nie unfrei gefühlt hat. Was verstehen Sie unter Freiheit?
Freiheit ist das, was wir durch moralische Verantwortung erfahren. Sie ist die Fähigkeit, moralisch zu handeln, die Fähigkeit zur Reflexion, unsere Vernunft zu verwenden. Die Essenz des Menschseins. Anders als Tiere, die nach ihren Trieben leben – sie essen, wenn sie hungrig sind, sie schlafen, wenn sie müde sind –, können wir pausieren und darüber nachdenken, was wir tun.
Ist es nicht sehr einfach, Freiheit so zu definieren, wenn man in einem demokratischen Land lebt? Was sagen Sie jenen, die in einem autoritären Staatssystem leben?
Diese Fähigkeit zu haben, ist das eine. Institutionen, die ermöglichen, dass man sie ausleben kann, etwas anderes. Ich denke aber nicht, dass das nur für Autokratien gilt. Auch in demokratischen Staaten gibt es Einschränkungen, wenn der Staat, Parteien, die Kirche oder eine andere ideologische, autoritäre Struktur Macht ausübt. Politische Autoritäten können unsere moralische Handlungsfähigkeit negativ einschränken, wenn sie falsche Anreize setzen, beispielsweise wenn politische Parteien ihre Wähler wie Konsumenten behandeln.
Weltweit stehen Demokratien unter Druck. Was sehen Sie als größte Bedrohung?
Den Aufstieg von Ethnonationalismus und die rechte Kritik an der liberalen Demokratie. Rechte Parteien nutzen die Unzufriedenheit mit dem Status quo, die in Fehlentwicklungen der Globalisierung wurzelt. Sie identifizieren eine Bedrohung, aber diagnostizieren sie falsch – nämlich als Bedrohung, die auf fremde Identitäten zurückgeführt wird.
Dabei wird stets der Linken vorgeworfen, sich auf Identitätspolitik zu fokussieren.
Das Problem der Linken ist nicht so sehr, dass sie Identitätspolitik betreibt, sondern dass sie das rechte Verständnis von Identität annimmt. Sie argumentiert nur mehr auf Basis von Identität, ohne ein größeres, intersektionales Verständnis dafür zu schaffen, wo Unterdrückung herkommt und wie sie mit der Entwicklung der Globalisierung verbunden ist. Die Linke hat die Kritik am Kapitalismus verloren, ebenso wie Kritik an einer Politik, die …read more
Source:: Kurier.at – Politik



