„All About Earthquakes“ bei den Festwochen: Wie eine fest zudrückende Faust

Kultur

Gleich mit vier Erdbeben beginnt Christopher Rüpings neues Stück – das ja auch „All About Earthquakes“ heißt. Erst rüttelt es die 14 Schauspieler auf der Bühne des Volkstheaters ordentlich durch bei einem „nur vorgestellten“ Erdstoß. Dann spielen sie ein Twittervideo vom verheerenden Erdbeben in Haiti 2010 nach. Auf diese dramatische Darstellung – wo leblose Körper mit der stets wiederholten Formel „Komm, steh auf“ beschworen werden – folgt eine ganz persönliche Episode. Ensemblemitglied Danai Chatzipetrou erlebte als Kind eine solche (leichte) Erschütterung. Die Schauspielerinnen und Schauspieler spielen mit Körperkomik ihr Bett und ihre vier Goldfische, die nicht gerettet werden konnten.

Heute irritierender

Erst nach diesen wie Auflockerungsübungen bei den Proben wirkenden Szenen findet jenes Erdbeben statt, um das dieses Stück eigentlich zirkuliert. Jenes in Santiago de Chile 1647, von Heinrich von Kleist in „Das Erdbeben von Chili“ verewigt. In dieser Novelle geht es um die verbotene Liebe einer Adelstochter und eines bürgerlichen Lehrers. Nachdem sie von ihm schwanger geworden ist, wird sie zum Tod verurteilt, er zu lebenslanger Haft. Das Erdbeben rettet beide, wenn auch kurz. Rüping hat in einer der wenigen Änderungen der Originalgeschichte diese Beziehung in eine in unserer Zeit stärker irritierende Form übersetzt: eine weiße Frau, Josephe (Elsie de Brauw), die einen 27 Jahre jüngeren, noch dazu schwarzen Mann, Jeronimo (Moses Leo), liebt.

Gleichmachende Liebe

Kleists Novelle ist hier aber nur eine Klammer, die sich wie eine fest zudrückende Faust um die Fragen „Was ist Liebe?“ und „Kann Liebe eine gesellschaftsverändernde Kraft sein?“ legt. In „Das Erdbeben von Chili“ führt das gemeinsam erlebte Trauma zu einer kurzen Periode, in der die Unterschiede in Stand und Klasse keine Rolle spielen. Rüping verbindet diese Vision mit der Theorie der US-Intellektuellen bell hooks. Sie postuliert, dass erst wenn die Liebe aus dem Privaten geschält wird, wenn Liebe bedeutet, dass allgemein niemand den anderen kleiner macht und daher auch keine dominierenden Schichten à la Patriarchat bestehen, eine Revolution der Gemeinschaft möglich ist. 

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Nurith Wagner Strauss Festwochen

In einem originellen Twist präsentiert „All About Earthquakes“ dann einen unerwarteten Propheten dieser Idee, der hooks’ Idee populär formuliert: Haddaway. Sein Song „What Is Love“ entstand 1992, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, also genau einer Zeit, in der Hoffnungen auf ein besseres Miteinander sprossen – aber nur kurz. „Don’t hurt me“ – Tu mir nicht weh, das wäre der Schlüssel zur gesellschaftlichen Neuordnung (eine nebenbei gesagt nicht ganz so revolutionäre Einsicht, wie aufmerksame Leser des Neuen Testaments wissen). Mit anschwellender Eurodance-Musik und packendem Schlagzeugsolo ist man versucht, sich dieser naiven Utopie hinzugeben.

Unmöglichkeit der Utopie

Aber dann geht das Stück weiter. Und endet mit dem von Kleist beschriebenen Blutbad an Josephe, Jeronimo und einem an einem Kirchenpfeiler zu Tode zerschmetterten Baby.

„All About Earthquakes“ gelingt viel: Wie aktuell die Unmöglichkeit dieser Utopie ist, zeigt nicht zuletzt, dass die letzte Szene an Schilderungen des Vorgehens der Hamas am 7. Oktober 2023 erinnert, auch die erschütterte Hoffnung auf ein achtsames Miteinander zu Beginn der Corona-Pandemie kommt ins Gedächtnis – ohne, dass die Inszenierung es dezidiert darauf anlegt. Es entstehen eindrucksvolle, vieldeutige Bilder, besonders nachdem die Bühne …read more

Source:: Kurier.at – Kultur

      

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