Ein Tscheche in Wien: die Tagebücher des Karl Simonek (1875–1948).
Ein echter Wiener, so hieß es früher, hat eine böhmische Großmutter. Die Wienerin Katharina Simonek-Palzer kann zumindest auf einen böhmischen Urgroßvater verweisen, Karel Šimonek (1875–1948) hieß er. Als ihre Mutter starb und sie deren umfangreiche Hinterlassenschaft sichtete, stieß Simonek-Palzer auf das Tagebuch des Urgroßvaters. Der APA-Journalist Edgar Schütz und der Historiker Matthias Marschik bekamen das Tagebuch in die Hände, erkannten dessen Wert als historisches Dokument und beschlossen, es zu veröffentlichen.
Šimonek, der aus einem böhmischen Dorf nordöstlich von Prag stammt, zieht 1898 nach Wien, wo er als Hausmeister und beim Gaswerk arbeitet, am Wochenende verdient er als Trompeter bei der Tanzmusik etwas dazu, etwa in der „Knödelhütte“ am Wolfersberg. Er heiratet seine Landsfrau Božena Kohoutek, mit der er vier Kinder hat. Zwei sterben früh, eines nach drei Wochen, eines nach zwei Jahren – „diesmal bin ich schier wahnsinnig geworden“, schreibt er.
Historisch eingeordnet wird das Tagebuch durch Aufsätze über die Geschichte der tschechischen Zuwanderung in Wien (Michael John) beziehungsweise über Österreicher in russischer Kriegsgefangenschaft (Verena Moritz und Hannes Leidinger) – und zwar im Ersten Weltkrieg. Šimonek ist sechs Jahre inhaftiert, kehrt erst Ende 1920 zurück.
Der erste Teil des Tagebuchs ist auf Tschechisch verfasst (und wurde für das Buch ins Deutsche übersetzt), ab 1920 schreibt er auf Deutsch. Auch, dass aus Karel Šimonek irgendwann Karl Simonek wird, spricht für eine Einstellung, die man heute „integrationswillig“ nennen würde.
Ein echter Wiener
Der tendenziell raunzerte Grundton des Tagebuchs hat die Herausgeber zu dem Titel „Ein echter böhmischer Wiener“ inspiriert. Es zeigt sich aber auch, dass die Assimilation ihre Grenzen hatte. Als bei Simonek 1927 Zuckerkrankheit diagnostiziert wird, macht er seinen Vorgesetzten im Gaswerk dafür verantwortlich, der „ein eingefleischter Böhmenfresser“ sei.
Politisch ist Simonek schwer einzuordnen. Er bezieht eine Gemeindewohnung, steht der Sozialdemokratie aber nicht besonders nahe; er hat antisemitische Ansichten, ist aber kein Nazi (den „Anschluss“ etwa bezeichnet er als „Tragödie von großer Bedeutung“). Während des Zweiten Weltkriegs reportiert Simonek akribisch die Siege und Niederlagen der Wehrmacht, während er parallel dazu die Krankengeschichte von Božena protokolliert, die nach jahrelangem Leiden 1944 stirbt. „Nun bin ich alleine mit meinem Schmerz und muss warten, bis an mich die Reihe kommt.“
Es ist ein hartes Leben, von dem dieses Tagebuch Zeugnis ablegt. Am Ende hat Karl Simonek der Lebensmut verlassen. An seinem 70. Geburtstag, dem 9. August 1945, notiert er nur lakonisch: „Wie lange noch?“
Verlag
E. Schütz, M. Marschik (Hg.): „Ein echter böhmischer Wiener“, Löcker, 366 S., 29,80 Euro
Source:: Kurier.at – Kultur