
Das Davonrennen hat sie früh geübt. Erst vor dem Hausmeister. Später vor den „Mitmenschen“, um nicht erschlagen zu werden. Noch später hat ihr das Rennen im Sportverein Hakoah geholfen. In „Glockengasse 29“ beschreibt Vilma Neuwirth (1928–2016), wie sie als jüdisches Arbeiterkind aus Wien-Leopoldstadt die Nazi-Zeit überlebte. Wie die Mutter zum „Nerverl“ wurde, weil sie als einzige Christin in der Familie den jüdischen Mann und ihre halbjüdischen Kinder beschützte und auch nach 1945 jedes Mal, wenn es an der Tür läutete, einen halben Nervenzusammenbruch bekam aus Angst, es könnte die Gestapo sein. Neuwirth schreibt von Wien und den Wienern. Davon, wie Nachbarn sich als Judenjäger betätigten, wie jüdische Kinder mit Hundepeitschen geschlagen wurden und wie ihre beste Freundin Hilde sie als „Saujüdin“ beschimpfte. Die Bombenangriffe sah sie zwiespältig. Denn Angst mussten mit einem Mal auch die „Herrenmenschen“ haben.
Cover
Vilma Neuwirth:
„Glockengasse 29“. Vorwort von Elfriede Jelinek.
Milena.
220 S. 25€
Source:: Kurier.at – Kultur