Florentina Holzingers „A Year Without Summer“: Männer ohne Moral

Kultur

Der Ursprung der Welt? Gustave Courbet hat ihn, den Schoß, 1866 gemalt. Und Florentina Holzinger lässt das einst verruchte Bild zu einem formatfüllenden Torso aufblasen – zu „Also sprach Zarathustra“. Naheliegend, dass ihre Mitstreiterinnen aus dieser „Spalte“ herauspurzeln.

Und auch sie selbst gebiert – mit gespreizten Beinen auf einem gynäkologischen Stuhl. Die seitlichen Screens in der Berliner Volksbühne zeigen die Operation im Close-up: Die Nähte einer noch nicht verheilten Wunde werden aufgeschnitten, dann zieht eine Pinzette einen winzigen Embryo aus der klaffenden Spalte. Bravo, jubeln die Umstehenden in Krankenschwesterkitteln. Was es geworden ist? Alle begeistert: „It’s a musical!“ Echt? Echt!

Nach ihrer ersten „Oper“ – Holzinger machte 2024 aus einer Komposition von Paul Hindemith das religionskritische Spektakel „Sancta“ – hatte sie, wie sie sagt, „Blut geleckt“. Der nächste Schritt, noch mehr Musik und Songs zu integrieren, lag nahe. „A Year Without Summer“ wurde nach zwei Stunden mit Standing Ovations gefeiert; wie lang der Abend tatsächlich dauerte, wissen die Göttinnen: Er hatte bewusst kein Ende und er nahm kein Ende. Seelenruhig drehte eine Eiskunstläuferin ihre Pirouetten, mitunter fiel sie hin, aber schon stand sie wieder.

Ein „Musical“ ist „A Year Without Summer“ aber nicht, sondern eine überbordende Revue aus Tanz, Burleske, Zirkus, Performance – typisch Holzinger. Sie hat auch eine Choreografie mit Federfächern integriert, sie zitiert Broadway-Kitsch und Punk, sie spricht von einer „Show“, und das trifft es recht gut.

Dystopische Zeiten

Ausgangspunkt war, wie die Österreicherin zu Beginn erklärt, das Jahr 1816: Ein Vulkanausbruch auf der indonesischen Insel Sumbawa verursachte eine derart gewaltige Aschewolke, dass es selbst in Europa den Sommer über kalt blieb. Es gab Ernteausfälle, er herrschte Hunger. Am Genfer See hielt sich eine Gruppe von Schriftstellerinnen mit dem Erzählen von Geschichten bei Laune; der dystopischen Zeit gemäß waren es Gruselgeschichten. Eine unter ihnen, Mary Shelley, erfand den Roman „Frankenstein“, in dem der gleichnamige Wissenschafter, das patriarchale Prinzip verkörpernd, ein künstliches Wesen aus Leichenteilen erschafft. Doch der Eingriff in die Natur, das weibliche Prinzip, bewirkt nichts als Zerstörung.

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Dies exerziert Holzinger vor. Doch sie macht Umwege, bis es zum absurden Showdown kommt (man denkt unweigerlich an die frühen Filme von John Waters). Und sie beginnt mit einem langen Intro: Die Bühne liegt im Dunst, erst mit der Zeit lassen sich immer mehr Frauen ausmachen, darunter auch viele ältere und alte. Sie finden sich zu Grüppchen, kuscheln, sie umarmen sich. Erst jetzt helfen sich die Frauen beim Ausziehen (Holzingers Ensemble spielt in der Regel ohne Scham mit nackten Körpern), allmählich steigert sich das Wimmelbild zu einer Orgie.

Ultimate Facelifting

Aber der Schoß gebiert auch Monster, die keine Moral kennen. Die Frankenstein-Szene mit Heilsversprechen in einer heutigen Schönheitsklinik samt „Ultimate Facelifting“ ist so richtig amerikanisch garniert: Der Infusionsständer wird zur Polestange, das Trapez hat Pillen-Form. Alles ist Showbiz, wie es in einem der vielen Songs heißt.

Annina Machaz unterhält als Sigmund Freud, den Begründer des „Psychoanal“, der, an der Zigarre lutschend, über Penisneid brabbelt, Hysterie diagnostiziert und einen Vortrag über die Vagina Dentata hält. Großartig dazu die Trickfilm-Endoskopie. Auch Saioa Alvarez Ruiz ist wieder dabei: Sie tritt im Wettkampf …read more

Source:: Kurier.at – Kultur

      

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