Molière im Akademietheater: Zum Totlachen hochsensibel

Kultur

Eine sprachlich derbe, im Detail differenzierte Molière-Überschreibung

„Du Opfer!“ Unlängst war das eine Beschimpfung. Die Stimmung ist umgeschlagen. Heute herrscht Wettbewerb der Opfer. Im Krieg – wer verbreitet die besseren Opferbilder – wie daheim. Die Influencerin von Welt hat, wenn nicht ADHS, dann wenigstens Laktoseintoleranz und möchte bitte heute keine Männer im Freibad.

Auch das ist Teil der Antwort auf die Frage, wozu man Molières „Der eingebildete Kranke“ von 1673 heute noch spielen soll. Die hysterische, Verzeihung: hochsensible Gesellschaft. Klar, das Lachen über den Tod hat immer Saison. Und natürlich ist Molières letztes Stück auch ein gut gebauter Klassiker, der Lacher garantiert und eher für Publikum sorgt als eine Uraufführung. Womöglich ein Grund, warum Burgtheaterdirektor Stefan Bachmann, 2013 bis 2024 Intendant am Schauspiel Köln, seine erfolgreiche Molière-Inszenierung nach Wien mitgebracht hat.

In der Überschreibung von Barbara Sommer und Plinio Bachmann wird auch das thematisiert: Die Frage, „wozu“ man was spielt. Sie ist Teil des modernen Theater-Diskurses, der hier gründlich, nochmals Verzeihung, verarscht wird. Bei Molière wörtlich zu nehmen. Titelfigur Argan, der hypochondrische Tyrann, steht auf Einläufe und wird in Panik verfallen, live auf der Bühne zu sterben wie Molière es in der Titelrolle, die er sich auf den Leib geschrieben hatte, tat. Im Zentrum standen damals der hysterische Mann und sein Verlangen, sich dauernd zu untersuchen – gewidmet Ludwig XIV., der sich zu Tode behandeln ließ.

Nunmehr geht’s nicht um den Mann, sondern um den Menschen an sich. Den Argan spielt eine Frau – Regina Fritsch hatte die Rolle einstudiert, ist kurz vor der Vorstellung krank geworden, für sie sprang bei der Premiere die famose Rosa Enskat ein.

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Rosa Enskat sprang bei der Premiere für Regina Fritsch ein

Lauter Hysteriker

Ob Mann oder Frau: egal – hysterisch sind sie alle mit ihrem Drang nach „Kommunikation auf Augenhöhe“ und gendersensibler Sprache, der man mit hier Analphasenhumor und generell derber Sprache begegnet. Dienerin Toinette wird als „Drecksau“ bezeichnet.

Stammtischpotenzial hat das dennoch nicht. Denn die Sensibelchen, die gerne „was macht das mit dir?“ fragen, sind eigentlich die Klügeren hier. Argans „hochsensible“ Tochter Angélique (Paul Basonga) ist vielleicht keine Sympathieträgerin ab Minute eins, aber letztlich eine von den, äh, „Normaleren“ hier. Als selbsterklärter „Normaler“ taucht dann auch Argans Bruder (Ernest Allan Hausmann) auf. Er schimpft über die gierigen Ärzte (wunderbar Barbara Petritsch als Doktor Purgon) und erinnert an die abgeklärten Eingeweihten, die in der Pandemie vermeintlich als einzige wirklich wussten, was Sache war.

Hier nimmt man keine direkte Partei. Im Spektrum des blinden Glaubens an die Medizin, dessen Opfer Argan ist, befinden sich eben auch Kurpfuscher und Quacksalber – auf der anderen Seite stehen die Verschwörungstheoretiker mit ihrem Raunen über die „Pharmaindustrie“.

Nichts ist eindeutig, das ist die Stärke dieses nach außen hin lauten, manchmal doch sehr um Pointen bemühten Abends. Wer sich auf die Schenkel klopft, dem ist entgangen, dass im Hintergrund der kahlen Bühne, in deren Zentrum bloß Argans Krankenbett-Chaiselongue steht (Bühne und Kostüme: Jana Findeklee, Joki Tewes), der Tod wartet.

KURIER-Wertung: 4 von 5 Sternen

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Source:: Kurier.at – Kultur

      

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