Saša Stanišić: Zehn Minuten im Proberaum des Lebens

Kultur

Saša Stanišićs virtuos-witziger Roman „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“

Das wäre doch einmal eine Perspektive. Für 130 Mark kann man sich die eigene Zukunft für zehn Minuten in einem Proberaum anschauen. Gefällt einem, was man sieht, kann man sich danach für 130.000 Mark einloggen. Diese geniale, aber zutiefst utopische Idee versucht Fatih im Sommer 1994 seinen Freunden Piero, Nico und Saša in den Weinbergen nahe der Heidelberger Vorstadtsiedlung Emmertsgrund zu erklären.

Allesamt sind die vier 16-jährigen Teenager Migrantenkinder, irgendwie auch Nico, weil seine Mutter aus der DDR kommt. Sie wissen also, selbst durch oftmaliges Betreten dieses Proberaums muss nicht unbedingt eine rosige Zukunft winken.

Es kann auch eine „Kackzukunft“ nach der anderen kommen. Obwohl, irgendwann sind sicher einmal zehn gute Minuten dabei, für manche ist das Glück bloß umständehalber spärlicher gesät.

Darum geht es gleich in der ersten Geschichte „Neue Heimat“ im neuen Buch von Saša Stanišić mit dem rekordverdächtig langen Titel „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“.

Die einzelnen Kapitel erscheinen auf den ersten Blick wie eigenständige Erzählungen, sind aber doch meist subtil miteinander verbunden und bauen aufeinander auf. Deshalb empfiehlt der Autor auch zu Beginn: „Bitte der Reihe nach lesen“. Die vier Buben tauchen beispielsweise an späterer Stelle in der Gruppe oder einzeln, wie Saša, in den autobiografisch gefärbten Kapiteln über Helgoland wieder auf.

Virtuos und voller Witz verbinden sich dabei die Geschichten unterschiedlicher Menschen aus unserer Zeit auf magische Weise miteinander, schließlich betreten alle Figuren irgendwann den Proberaum des Lebens.

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In einem Kapitel sitzen Georg Horvath und sein Sohn Paul an der Straßenbahnhaltestelle und füttern Hunderte Möwen mit Pommes. Plötzlich flüstert Georg seinem Sohn einen pädagogisch fürchterlichen Vorschlag zu. Als die nächste Straßenbahn einfährt und sich deren Türen öffnen, schauen sich die beiden an, warten bis kurz vor dem Schließen der Türen und werfen dann die restlichen Pommes hinein und alle Möwen fliegen ihnen hinterher. Die Türen klappen zu und die Straßenbahn fährt los. Was für ein großartiges Bild.

Cover

Saša Stanišić:
„Möchte die 
Witwe  …“
Luchterhand.
256 Seiten. 
25,50 Euro 

KURIER-Wertung: 5 von 5 Sternen

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Source:: Kurier.at – Kultur

      

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