Emmanuel Carrère: Von Menschen und Nichtmenschen

Kultur

Emmanuel Carrères großartige Romanbiografie über den visionären Philip K. Dick, der seine Kultwerdung nach „Blade Runner“ nicht mehr erlebte

In seinen ersten Lebenswochen hungerte er. Die Mutter hatte zu wenig Milch und wusste nichts vom Zufüttern. Seine Zwillingsschwester starb, sein Name wurde vorsorglich auch gleich auf dem Grabstein eingraviert. Das Leben des 1928 in Chicago geborenen Science-Fiction-Autors Philip K. Dick begann so finster, wie er die Welt später in seinen Büchern auch schildern würde.

Auch die frühkindlichen Bespaßungen durch den Vater hatten kreative Folgen. Dieser hatte von seinem Einsatz als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg als Souvenir eine Gasmaske mitgebracht, die er seinem dreijährigen Sohn vorführte, um ihn zum Lachen zu bringen. Doch Phil lachte nicht. Die undurchsichtigen Riesenaugen und der schwarze Gummirüssel legten den Grundstein für die düsteren Bilderwelten des späteren Kultautors – lang, bevor dieser Edgar Allan Poe und H. P. Lovecraft gelesen hatte.

Existenzfragen

1982, kurz nach dem Philip K. Dick mit nur 53 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls starb, kam Ridley Scotts Film „Blade Runner“ in die Kinos, der auf Dicks Roman „Träumen Androiden von elektrischen Schafen?“ basiert und ihn berühmt machte. Zuvor war er lediglich Science-Fiction-Fans ein Begriff gewesen, ein Genre, das, abgesehen von Ausnahmeerscheinungen wie Ray Bradbury oder Stanislaw Lem, damals wenig literarische Anerkennung fand. Dabei geht es darin um Grundfragen der Existenz. Dicks berühmtester, später auch unter dem Titel „Blade Runner“ verkaufter Roman stellt im Kern die Frage: Was ist ein Mensch?

Bereits 1993 widmete sich der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère dem widersprüchlichen Leben Philip K. Dicks. Carrère machte zuletzt mit seiner Gerichtsreportage „V13“ über die Pariser Terrorprozesse von sich reden.

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In seiner erst jetzt auf Deutsch erschienenen Romanbiografie „Ich lebe und ihr seid tot. Die Parallelwelten des Philip K. Dick“ zeichnet er den kurzen, intensiven Lebensweg eines Mannes nach, der von Gegensätzen geprägt war. Liebender Ehemann, totaler Psychotiker, glühender Katholik, verzweifelter Junkie. Und er zeigt, wie prophetisch dieser zerrüttete Mensch als Autor war. Die Themen seiner Geschichten – Zweifel an der sogenannten Wirklichkeit – beschäftigten ihn auch selbst, wie hier auf eindringlichen 362 Seiten nachzulesen ist.

Manche KI-Modelle sollen bereits so weit in der Nachahmung des Menschlichen fortgeschritten sein, dass sie psychische Probleme haben. Bei Dick erfuhr man schon vor einem halben Jahrhundert von Gefühlen menschlicher Nachbildungen. Ob Roboter, Replikanten oder Klone – sie waren immer wieder Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzungen, etwa im erschütternden Roman „Alles, was wir geben mussten“ des Literaturnobelpreisträgers Kazuo Ishiguro.

Derartige Anerkennung blieb Dick verwehrt. Jahrzehnte, nachdem dieser sensible Autor von seinen Zweifeln an der Realität schrieb, ist es womöglich billig, zu sagen, die heutige Welt wirke, als wäre sie von ihm erschaffen. Bloß: Es stimmt. Man kann sich fragen, warum Carrères Buch über diesen Visionär erst jetzt auf Deutsch erscheint. Doch vielleicht ist der Zeitpunkt perfekt. Es könnte als letzte Warnung gelesen werden. Was damals als Fantasy galt, scheint nun Wirklichkeit zu werden. Sie hoffe, schreibt Übersetzerin Claudia Hamm, dass „Phil Dicks und Emmanuel Carrères Fragen zu Wahrheit, Wirklichkeit und dem, was das Menschliche kennzeichnet, ihren Weg in die weiteren Debatten zu Science und Fiction finden.“

CoVER

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Source:: Kurier.at – Kultur

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