
Später, wenn Hanna Krause an das Frühjahr 1945 dachte, fiel ihr als Erstes die Magnolie im Garten des Krankenhauses ein, in dem ihre Tochter gestorben war. Sie erinnerte sich an die Makellosigkeit der Blüten, die so erstaunlich wirkte, nach dem Inferno der Bomben, von dem nur Ruinen übrig waren.
Für ein Begräbnis war kein Geld da. Kristina, das tote Baby, kam in die anatomische Lehrsammlung. Das Formalin, in dem das Kind schwamm, hätte Hannas versoffener Mann wohl auch noch getrunken, wenn er wieder einmal auf der Suche nach Alkohol war. Später besuchte Hanna das tote Kind immer wieder, brachte ihm Blumen und fand, es ähnle seinen lebenden Geschwistern. Sieben Kinder hatte sie zur Welt gebracht, eins, ihr Sohn Johannes, starb bei einem Bombenangriff, das andere, Kristina, bald danach. Beim letzten, Judith, hatte Hanna schon weiße Haare. Dass sie jemals gejammert hätte, davon wird man in Annett Gröschners Roman „Schwebende Lasten“ nichts lesen.
Kaiser, „Führer“, Krieg
„Schwebende Lasten“ erzählt die Geschichte einer Arbeiterin aus Ostdeutschland. Hanna Krause, geborene Borowski, Vater unbekannt. Blumenbinderin, später Kranfahrerin. Die, bis auf ein paar Monate Berlin in der Jugend, nie aus Magdeburg herauskam. Die Kaiser, Führer, zwei Weltkriege, zwei Diktaturen er- und mehrere Besuche bei der Engelmacherin überlebte. Die Kinder auf die Welt brachte, sterben sah und nicht begraben konnte. Und die ihren einbeinigen Mann Karl immer ertrug, obwohl er das Haushaltsgeld in der Kneipe versoff – er vertrug doch kein Flaschenbier! Als die Krauses dann den ersten Fernseher der Nachbarschaft bekamen, war’s mit den Kneipenbesuchen ohnehin vorbei.
Von ihrem Kran in der Halle eines Schwermaschinenbaubetriebs hatte Hanna einen guten Überblick auf die Menschen unter ihr. Und manchmal, dachte Hanna, kamen ihr Blumen menschlicher vor „als die eigene Gattung“. Blumen waren eine Konstante in ihrem Leben geblieben, lange, nachdem sie ihr eigenes Blumengeschäft zusperren musste. In die Kabine ihres Krans nahm sie einen Topf Azaleen mit, auf ihrer Arbeitsschürze wucherten blaue Kornblumen und am Ende ihrer Tage bedeckten feine, verästelte Linien ihr Gesicht wie Eisblumen.
Es war das Ende eines Lebens, das dem Leser stellenweise unerträglich erscheint, das für Hanna aber eben einfach ein Leben war. Mit guten, mit schlechten Zeiten. Und keinen weiteren Fragen.
Mimosen und Veilchen
Möglich, dass die botanischen Erläuterungen, die Annett Gröschner vor jedes Kapitel stellt, Teil dieser guten Zeiten sind. Mimosen, Veilchen und Schachbrettblumen lassen sich nicht davon abhalten, immer wieder in das Beschwerliche dieses Daseins hinüberzuwuchern. Gröschner erzählt in unverschnörkelter Sprache, unaufgeregt und lakonisch von einem Leben, wie es viele Frauen im 20. Jahrhundert kannten. Vielleicht waren viele von ihnen Heldinnen wider Willen. Es war eben so. Gröschner, geboren 1964, stammt, wie ihre Protagonistin, aus Magdeburg, lebt in Berlin und veröffentlichte neben Romanen und Gedichten auch Reportagen. Und sie schreibt, ja, Bestseller über tatsächlich gelebte Menschenleben.
Menschen wie Hanna, die ohne großes Aufsehen versuchte, anständig durchs Leben zu kommen. Die ihre Fabrikskolleginnen im Krieg, Zwangsarbeiterinnen aus der Ukraine und aus Polen, in Deutschland beschönigend „Fremdarbeiterinnen“ genannt, verbotenerweise mit Butterbroten versorgte. Der man im Luftschutzkeller, wo sie mit ihren Kindern Zuflucht suchte, …read more
Source:: Kurier.at – Kultur