Die italienische Bestsellerautorin und Zeitgeschichte-Spezialistin über russischen Kolonialismus und westeuropäische Versäumnisse
Bereits in ihrem ersten Roman „Eva schläft“ verarbeitete die italienische Erfolgsautorin Francesca Melandri Zeitgeschichte zum Familienepos. Ihr Roman „Alle außer mir“ wurde 2018 zum Riesenerfolg – und das, obwohl die 60-jährige Römerin darin erneut ihrer Heimat Italien unangenehme Fragen zur Vergangenheit stellte. Das tut sie auch in ihrem neuen Buch „Kalte Füße“, das zugleich Vatergeschichte und Dokumentation der faschistischen Verbrechen Italiens ist.
KURIER: Ihre Bücher sind immer eine Mischung aus Zeitgeschichte und Familienroman. Diesmal geht es in Richtung politischer Essay.
Francesca Melandri: Ja, aber zugleich ist dieses Buch auch mein bisher persönlichstes.
Weil Sie sich darin an Ihren Vater wenden.
Ja, und das fühlt sich auch merkwürdig an. Es ist mein erstes Non-Fiction-Buch und zugleich sehr intim.
Natürlich soll man einen Schriftsteller nie fragen, ob das alles „wahr“ ist, was er schreibt, aber …
… das meiste ist autobiografisch und doch ist da natürlich ein gewisser Spielraum. Literatur ist immer Interpretation.
Ihr Vater hat Ihrer Familie immer vom Jahr 1943 erzählt, als er einer der Soldaten war, die in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee flohen. Der „Rückzug aus Russland“ hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt. Aber ganz so war es nicht. Tatsächlich marschierten italienische Faschisten in die Ukraine ein.
Ja. Er war Offizier in einem Heer, das mit den Nationalsozialisten verbündet war. Und dieses Heer war zum Erobern und Vertreiben dort. Es ging Hitler um die Expansion nach Osten. Mussolini machte mit. Ich möchte aber betonen, dass wir das in Italien mittlerweile gut verarbeitet haben. In Deutschland wird Italien ja immer als Land dargestellt, das seine faschistische Vergangenheit nicht aufgearbeitet hat. Das stimmt aber nicht. Wir lernen auch in der Schule von unserer Vergangenheit.
Zugleich sind faschistische Symbole in Italien mancherorts immer noch salonfähig.
Italien hat einen anderen Umgang mit der Vergangenheit als Deutschland. Ich behaupte nicht, dass das eine oder andere besser ist. Natürlich haben wir in Italien auch unsere Probleme. Deutschland hat seine Nazi-Vergangenheit gründlich aufgearbeitet, ich weiß nicht, wie das in Österreich ist.
Die Legende, Österreich sei Opfer gewesen, lebt.
Eine problematische Sichtweise. Aber zurück zu Italien. Es gab nicht nur Faschisten, sondern auch eine starke Widerstandsbewegung, die Partisanen, über die ich im Buch ebenfalls spreche. Die italienische Legende ist, dass der Partisanen-Widerstand größer war, als es tatsächlich der Fall war. Dieser Antifaschismus ist der Gründungsmythos Italiens. Und wie bei allen Mythen: Im Kern stimmt das, manches ist übertrieben. Es ist kompliziert, weil Geschichte eben kompliziert ist.
Apropos Mythos: Ein weiterer Mythos, der derzeit wieder sehr in Mode ist, ist jener vom bösen Westen und vom guten globalen Süden, dem angeblich auch Russland angehört. Interessante Sichtweise, wenn man Russlands Rolle in Geschichte bedenkt.
Absolut. Von der imperialistischen Vergangenheit bis zum heutigen Angriffskrieg gegen die Ukraine, worüber ich ja auch in meinem Buch schreibe. Die Ignoranz Westeuropas, diese Zusammenhänge zu sehen, ist außerordentlich. Russland ist und war Kolonisator.
Aber das jahrelange Unvermögen Westeuropas, das zu sehen und zu benennen, ist doch erstaunlich.
Absolut. Und wissen Sie, wer einer der wenigen war, der das aussprach? Milan Kundera. Er hat ein …read more
Source:: Kurier.at – Kultur