Lea Ypi will „den Kapitalismus zähmen, damit Demokratie funktioniert“

Kultur

Am Donnerstag um 18 Uhr fällt der inoffizielle Startschuss der Wiener Festwochen. Die von der Erste Stiftung initiierte „Rede an Europa“ soll eine grundsätzliche Reflexion über Gegenwart und Zukunft des Kontinents liefern. Nach Timothy Snyder (2019), Oleksandra Matwijtschuk (2023) und Omri Boehm (2024) hält heuer die albanisch-britische Politikwissenschaftlerin und Philosophin Lea Ypi die Rede. Im Interview mit der APA denkt sie vor allem über die Zukunft der Demokratie nach. 

In Wien hat im vergangenen Jahr der Philosoph von Omri Boehm die „Rede an Europa“ gehalten und hat für große Kontroversen gesorgt. Er sprach über Lösungen des Israel-Palästina-Konfliktes und musste unter Polizeischutz antreten. Wie kontroversiell legen Sie Ihre Rede am Judenplatz an? 

Lea Ypi: Ich strebe nie danach, Kontroversen um ihrer selbst willen zu erzeugen. Wenn wir Themen wie Migration, Staatsbürgerschaft oder soziale Klasse ansprechen, wie ich es in meiner Rede vorhabe, reden wir über tiefgreifende Strukturen von Ungleichheit, Repräsentation und Zugehörigkeit, die politische Gemeinschaften prägen. Das sind keine abstrakten Themen, sondern sie haben Auswirkungen darauf, wie Menschen leben, arbeiten und anerkannt werden. Mein Ziel ist es nicht, zu provozieren, sondern zum Nachdenken über die Widersprüche in liberalen Demokratien anzuregen. Vor allem geht es um die Spannung zwischen dem universellen Versprechen der Freiheit für alle und den sehr realen Ausschlüssen und moralischen Doppelstandards, mit denen wir Ungerechtigkeiten um uns herum begegnen. Wenn dies Unbehagen oder Uneinigkeit hervorruft, zeigt es, dass das Gespräch notwendig ist. 

Wir hatten in Wien gerade Regional- und Kommunalwahlen. Wien ist eine stark wachsende Stadt mit über zwei Millionen Einwohnern, dennoch dürfen immer weniger Menschen, die in der Stadt leben, wählen. Heute verfügen mehr als 35 Prozent der Wienerinnen und Wiener im Wahlalter mangels österreichischer Staatsbürgerschaft über kein Wahlrecht. In den 1980er-Jahren waren noch mehr als 90 Prozent der in Wien lebenden Volljährigen wahlberechtigt. Wie groß ist dieses Problem für die Demokratie?

  ESC als politischer Brandherd: Warum Israel überhaupt noch teilnehmen darf

Demokratie ist ein sehr anspruchsvolles Ideal. Im Gegensatz zu anderen Formen der politischen Repräsentation zielt sie nicht nur auf Ordnung oder Effizienz ab, sondern verspricht Freiheit für alle. Diese Freiheit hängt von einem Grundprinzip ab: Jeder, der den Gesetzen unterworfen ist, muss auch ein Mitspracherecht bei der Gestaltung der Gesetze haben. Wird dieses Prinzip ausgehöhlt, wird die Demokratie hohl. Ihr Beispiel zeigt diese Spannung sehr anschaulich. Eine Stadt, in der mehr als ein Drittel der Erwachsenen vom Wahlrecht ausgeschlossen ist – obwohl sie dort leben, arbeiten und einen Beitrag zur Gemeinschaft leisten -, ist eine Stadt, in der die demokratische Legitimität zunehmend unter Druck gerät. Dieser Ausschluss schafft eine Kluft zwischen denen, die eine Stimme haben, und denen, die sie nicht haben, was wiederum zu Ungleichheit, Entfremdung und Misstrauen führt. Sie korrumpiert das demokratische Ethos der Gesellschaft und ist langfristig destabilisierend.

Was schlagen Sie als Lösung vor? 

Ich denke, dass die Staatsbürgerschaft nicht als Privileg behandelt werden sollte – etwas, das zufällig bei der Geburt vererbt oder selektiv vergeben wird -, sondern als ein Mittel der politischen Beteiligung. In einer mit meinem Kollegen Helder De Schutter verfassten Arbeit sind wir sogar noch weiter gegangen und haben die Idee einer obligatorischen Staatsbürgerschaft vorgeschlagen. …read more

Source:: Kurier.at – Kultur

      

(Visited 1 times, 1 visits today)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.