Innerhalb weniger Tage eroberte die islamistische HTS-Miliz Aleppo, die zweitgrößte Stadt Syriens. Der schwelende Bürgerkrieg entflammt damit erneut. Wie das passieren konnte.
Niemand hatte damit gerechnet, dass es letztlich so schnell gehen würde.
Am Freitag waren erste Warnungen aufgekommen, dass die islamistischen syrischen Rebellen mit ihrem Vormarsch auf die Millionenstadt Aleppo im Nordwesten überraschend schnell vorankamen. Am Abend hatten die Kämpfer bereits den Großteil der Stadt eingenommen, spätestens am Samstag stand sie de facto unter ihrer Kontrolle.
Die erst am Mittwoch begonnene Offensive ist eine der spektakulärsten Wendungen im bald 14 Jahre andauernden syrischen Bürgerkrieg. Ganz plötzlich, so scheint es, befindet sich das Regime von Diktator Bashar al-Assad in einer schweren Krise. Wie ist es dazu gekommen?
Trügerische Ruhe
Eigentlich erlebte Syrien zuletzt eine vergleichsweise ruhige Phase. 2020 hatten sich die Rebellen, unterstützt von der Türkei, mit der syrischen Regierung und Russland auf einen Waffenstillstand geeinigt. Jahrelang blieben die Rebellen in einem kleinen Gebiet im Nordwesten rund um die Stadt Idlib, wo sich unterschiedliche islamistische Gruppen fortan laufend Machtkämpfe lieferten. Assad wog sich in Sicherheit.
Doch diese Differenzen dürften im Großen und Ganzen beigelegt sein – als stärkste Kraft unter den Rebellen etablierte sich die Terrormiliz Hai’at Tahrir al-Sham (HTS). In Zeiten, in denen Assads Verbündete allesamt selbst in Konflikte verwickelt sind – Russland in der Ukraine, der Iran und die Hisbollah im Kampf mit Israel –, bereiteten sich die Rebellen monatelang vor und warteten nur noch auf den richtigen Moment.
via REUTERS/Valeriy Sharifulin
Syriens Machthaber Bashar al-Assad (l.) besuchte diese Woche seinen Verbündeten Wladimir Putin in Moskau. Das war der Zeitpunkt, an dem die Rebellen ihre Offensive starteten.
Der schien am Mittwoch gekommen, als Assad für einen Staatsbesuch zu Wladimir Putin nach Moskau reiste. Mit ihrem plötzlichen, großflächigen Vormarsch überraschten die Rebellen sowohl die syrische als auch die russische Armee.
Das erinnert massiv an die Eroberung Mossuls im Irak durch die Terrormiliz „Islamischer Staat (IS)“ im Jahr 2014. Die irakische Armee war damals schlecht aufgestellt, litt unter Korruption und schwacher Moral – auch in Aleppo sollen am Freitag Tausende syrische Soldaten desertiert sein.
Erdoğan mischt mit
HTS-Anführer Muhammad al-Julani befahl seinen Kämpfern, keine Zerstörung in Aleppo anzurichten und keine Zivilisten zu verletzen. Doch viele halten den ehemaligen al-Qaida-Terroristen für einen Extremisten, der zunächst seine Kontrolle über die Stadt sichern und dann ein religiöses Kalifat etablieren wolle.
APA/AFP/MUHAMMAD HAJ KADOUR
HTS-Kämpfer zogen am Samstag triumphierend durch das Zentrum von Aleppo.
Die Lage ist umso heikler, weil die HTS einen starken Verbündeten hinter sich weiß: die Türkei. Präsident Recep Tayyip Erdoğan will schon lange den gesamten nordsyrischen Grenzstreifen in eine „Pufferzone“ umwandeln und dort Rebellen wie syrische Flüchtlinge ansiedeln. Aleppo böte die Infrastruktur dafür.
Andere Rebellengruppen, die der Türkei nahestehen, bereiten offenbar ebenfalls Offensiven vor – etwa auf die von kurdischen Truppen kontrollierte Stadt Manbidsch. Eine Gegend, in der der mit allen Seiten verfeindete IS zuletzt wieder erstarkt ist. Würden die kurdischen Truppen hier geschwächt, könnte ein Vakuum entstehen, in das der IS vorstoßen könnte.
Und so droht der zuletzt festgefrorene Bürgerkrieg erneut aufzubrechen. Alleine in Aleppo starben seit Freitag mehr als 300 Menschen, Russland flog nach Jahren …read more
Source:: Kurier.at – Politik