
Noch bevor er sein neues Büro zum ersten Mal betrat, hatte Jack Forsdike sich darauf vorbereitet, leiden zu müssen. Der 28-jährige Brite hatte sechs Jahre lang zu Hause in Manchester Chinesisch gelernt, war dann nach Guangzhou gezogen, um als Videospiel-Entwickler für einen großen Tech-Konzern zu arbeiten. Er glaubte, sich einen Lebenstraum erfüllt zu haben.
„Die Personalabteilung sagte mir direkt, dass sich meine Arbeitszeiten drastisch erhöhen würden“, erzählte Forsdike dem US-Magazin Business Insider. „Das fühlte sich zunächst nach Anerkennung an. Ich erkannte bald, wie naiv ich war.“
Fortan musste er 72-Stunden-Wochen leisten, in China werden sie als „996-Wochen“ bezeichnet: Von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends, und das sechs Tage die Woche. Der Sonntag bleibt frei – meistens.
REUTERS/Florence Lo
Typisches Bild in chinesischen Metropolen: Auch spätabends brennt in den Bürotürmen noch Licht.
Überstunden hätten ihm „kein Schulterklopfen“ eingebracht, sagt Forsdike, Chefs hätten Meetings regelmäßig für 21 Uhr angesetzt, „dann war ich erst um Mitternacht zu Hause.“ Seine wachen Stunden habe er „entweder im Büro, auf dem Hin- oder Rückweg verbracht.“
996-Arbeitswoche ein „gewaltiger Segen“
Solche Arbeitszeiten sind zwar nicht legal, in den Bürotürmen chinesischer Metropolen aber üblich. Der Milliardär Jack Ma, Gründer des Online-Händlers Alibaba und über viele Jahre der reichste Chinese, nannte die Bereitschaft zur 996-Woche 2019 einen „gewaltigen Segen“ für den chinesischen Technologiestandort. Staatsmedien verbreiteten den Sager damals mit Wohlwollen.
Heute hat sich die Stimmung im Land gedreht, auch innerhalb der kommunistischen Partei. Mitte März präsentierte die Parteispitze einen 30-Punkte-Aktionsplan, darin heißt es unter anderem, Unternehmen müssten sich an die rechtliche Höchstarbeitszeit von 44 Stunden pro Woche halten, um „Schmerzpunkte wie die nationale Überstunden-Kultur“ zu lösen und „das Recht auf Ruhe und Urlaub“ der Arbeiter und Angestellten zu wahren.
Ausgerechnet dieselbe Staatsmacht, die das 996-System jahrzehntelang tolerierte, ruft plötzlich zur Erholung auf. Damit soll die schwächelnde Wirtschaft angekurbelt werden, die unter ausbleibendem Konsum leidet. Nach dem Motto: Wer weniger arbeitet, hat mehr Zeit, Geld auszugeben.
Warum der Konsum in China einbrach
Für die chinesische Konsum-Krise gibt es mehrere Gründe, fast alle kamen in den vergangenen sechs Jahren auf: Die Pandemie rollte über die Nation, die langen, rigorosen Lockdowns strangulierten die Privatwirtschaft und zerstörten Existenzen.
Besonders verheerend war der Crash am Immobilienmarkt – einem Sektor, der ein Drittel des BIP ausmacht und für viele Chinesen das Rückgrat ihrer Altersvorsorge war. Riesenkonzerne wie Evergrande oder Country Garden schrammten an der Insolvenz; Millionen von Wohnungen blieben Bauruinen, obwohl sie bereits von Käufern bezahlt worden waren.
Die Folge: Vorsicht statt Kauflaune. Zwischen 2020 und 2022 lag die Sparquote bei teils über 40 % – ein Rekordwert, der nicht nur die Krisenstimmung, sondern auch die strukturelle Unsicherheit offenbart.
Die meisten jungen Chinesen wollen deshalb Beamte werden
Mit ihrem Aktionsplan reagierte die kommunistische Partei aber auch auf den wachsenden Unmut der Bevölkerung. Durch die Covid-Ära haben viele junge Chinesen das Vertrauen in die Privatwirtschaft verloren. Sie haben erlebt, wie Freunde und Verwandte für große Firmen geschuftet haben – und trotzdem entlassen wurden.
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Source:: Kurier.at – Politik