„Blutbuch“ im Theater am Werk: Im Großmeer verschwimmen alle Grenzen

Kultur
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Österreichische Erstaufführung nach dem herausragenden Buch des nonbinären Autors Kim de l’Horizon.

Kein Wunder, dass um die Österreichische Erstaufführung dieses Buches ein kleines Bühnenwettrennen entbrannte: „Blutbuch“ des nonbinären Autors Kim de l’Horizon, mehrfach ausgezeichnet, ist ein literarisches Wunderding. Es baut, tieftraurig und gut gelaunt zugleich, grübelnd und geil, Verständnisbrücken mitten hinein in den Kulturkampf. 

Auch jene, die sich die vielen Begleitfragen des queeren Lebens nicht stellen, die eventuell schon das Gendern als Zumutung empfinden, können aus dieser Lektüre mit dem Bewusstsein herausgehen, dass ungeachtet der äußeren Umstände und inneren Kämpfe die Fragen ans Leben eigentlich von uns allen die gleichen sind.

Die Wiener Festwochen ziehen am 18. Mai mit „Blutstück“ – hier steht Kim de l’Horizon selbst auf der Bühne – nach, das Rennen um die Österreichische Erstaufführung gewann aber das Theater am Werk in Wien, wo am Freitagabend, wie schön, der Text selbst im Mittelpunkt stand.

Theater am Werk/Victoria Nazarova

Kim, nonbinäre Titelfigur des Buches, entwirft eine fünfteilige Geschichte des Weiblichen. Um sich zu verstehen, um die Frauen ihrer Familie – Meer, also Mutter, und die an Demenz erkrankte Großmeer, also Großmutter – und ihre Verwundungen zu verstehen, um die blutreichen vergangenen Leben ihrer weiblichen Vorfahren zu verstehen. Es geht hier um Verwundungen und die Lust daran, um das Patriarchat und die Leben, die den Frauen verwehrt wurden, und am Schluss geht es um einen Befreiungsschlag eines Menschen, der sich zwischen all den Geschlechterwunden dem Schrecken beider Historien verwehrt. 

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Regisseur Paul Spittler teilt diesen inneren Monolog auf fünf Performerinnen und Performer auf, die vorderhand verschiedene Aspekte der Queerness abbilden, aber auch hier verfließen die Grenzen. Das Buch purzelt von der schonungslosen, aber freundlich bleibenden Innenschau zur Ansprache der Großmeer zur Recherche über einen Nazi-Gartenspezialisten; all das wird getreu auf der Bühne rezitiert, man bewundert die Bewältigung der Textmengen. Konflikte werden im wahrsten Sinne des Wortes zugedeckt. 

Theater am Werk/Victoria Nazarova

Dicke rote Riesenwollfäden  werden zuerst zum wärmenden Pulli und dann zu jenen Fäden, in denen sich auch die Erzählung verstrickt, mit Absicht und weil es nicht anders geht, das Leben ist immer kompliziert.

Theater am Werk/Victoria Nazarova

Die Namen der autofiktiven Vorfahrinnen – vergewaltigt, unterdrückt, an der Liebe gehindert, eingesperrt fürs Kinderkriegen – Kims werden an die Wand geschrieben, als könnte man deren Leben so bewahren, es wird gesungen und getratscht und einander widersprochen. Es geht um das Weibliche und auch die Brutalität, die den Ungewöhnlichen entgegengebracht wird, damals und heute. Es geht um das Verschwiegene in Familien und den Schmerz, den das Nachfragen bringt. Es geht darum, dass Biografien alle fiktiv sind – auch von jenen, die normal tun.

Schon gelöst die Pausensituation, in der die Performer weiter performen, da weiß man aber schon, dass es eine Stunde weniger auch getan hätte, es werden fast drei werden. Am Ende hat man eine szenische Lesung mit einem Plus hintendran erlebt, die so stimmig erscheint, dass man sich fragt, wie das „Blutbuch“ bei den Festwochen zum „Blutstück“, also zum Theater werden soll. Herzlicher Applaus.

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Source:: Kurier.at – Kultur

      

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