Krimi „Views“: Wer geht für Klicks über Leichen?

Kultur

Marc-Uwe Kling, bekannt für die „Känguru-Chroniken“, hat einen Krimi über schrecklich plausible Entgleisungen der Gesellschaft geschrieben.

Seine berühmteste Schöpfung ist ein sprechendes und vor allem kommunistisches Känguru. Mit den „Känguru-Chroniken“ hat Marc-Uwe Kling einen der großen Belletristik-Hits der 2010er geschrieben. Die satirische Geschichte vom Kleinkünstler, der mit einem verhaltensauffälligen Beuteltier eher unfreiwillig zusammenlebt und mit ihm abstruse Abenteuer im Kampf gegen das „System“ erlebt, ist einfach unglaublich lustig. So wie das meiste, das Kling angreift, zumindest ein bisschen Humor verspricht. Natürlich ein Bilderbuch, wie das „Neinhorn“, in dem ein renitentes Einhorn als Galionsfigur für rechtschaffene Bockigkeit steht. Natürlich eine Fantasy-Komödie wie „Die Spurenfinder“, die Kling gemeinsam mit seinen Kindern geschrieben hat. Aber sogar eine Dystopie, in er das mit dem Spaß dem Namen nach schon eigentlich nicht geht. Aber die „Qualityland“-Reihe beweist es anders. 

Nun hat Marc-Uwe Kling erstmals ein Buch geschrieben, in dem es nichts zu lachen gibt. „Views“ heißt der Krimi (erschienen bei Ullstein), dem von Kritikerkreisen bereits eine gewisse politische Brisanz zugeschrieben wird. Dabei hat Kling nur eines gemacht: Aktuelle Strömungen so weit weitergedacht, dass sie ein beunruhigendes Szenario ergeben. Und gar so weit weiterdenken musste er gar nicht.

Virales Video

Yasira Saad ist Hauptkommissarin in Berlin, sie ist alleinerziehende Mutter und gerade auf einem Date. Mit einem Stefan, denn letztlich heißen fast alle Online-Dates Stefan – nach Yasiras Expertise. Das Rendezvous dauert aber nicht lang und hat schon gar nicht den von Yasira erwünschten triebabführenden Effekt, denn weil man ja immer auf sein Handy schauen muss, sieht Stefan etwas, das beiden rasch den Abend verdirbt. Ein 16-jähriges Mädchen, Lena, wird seit einigen Tagen vermisst. Im Internet geht gerade ein Video viral, das zeigt, wie vier schwarze Männer sie vergewaltigen. 

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Beide wissen, dass das wohl schwere gesellschaftliche Folgen haben wird. Yasira als „Nicht-Deutsche“ – die aber in Berlin Wilmersdorf geboren ist –  wird wegen der Optik zur zuständigen Ermittlerin ernannt. Ziemlich bald gibt es ein neues Video, in dem ein rechter Paramilitär, der sich Bär nennt, zur Jagd auf die Vergewaltiger aufruft. Und nicht lang danach gibt es ein neues Video, das zeigt, wie er Erfolg bei der Jagd hatte – inklusive Do-it-yourself-Urteilsvollstreckung. 

Asoziale Influencer

Mit jedem Kapitel läuft die Situation in „Views“ ein bisschen mehr aus dem Ruder. Zu Beginn haben zumindest die Dialoge zwischen Yasira und ihrem Kollegen Michael eine fast kängurueske Leichtigkeit, davon ist gegen Ende nichts mehr zu merken. Kling gräbt sich mit dem Unterhaltungsmedium Thriller durch die ungelösten Probleme unserer Zeit: die Unaufhaltsamkeit der Walze von viralen Videos, die (zu) schnellen Urteile über alles, was man im Internet so zu sehen bekommt, die Mobilisierung, die lang gehegte und von bestimmten Parteien noch geschürte Ressentiments gegen Asylsuchende ermöglichen und nicht zuletzt die technischen Möglichkeiten, die sich in geballter Geschwindigkeit vergrößern. Ohne dass es eine Mehrheit der Menschheit so wirklich versteht oder mitbekommt. Wem ist denn im Detail bekannt, welchen Influencern seine Kinder folgen? Und was weiß man schon so wirklich über die?

In den „Känguru-Chroniken“ gründet das Beuteltier ein „Asoziales Netzwerk“ und man muss bei …read more

Source:: Kurier.at – Kultur

      

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