Milo Rau: Die Bruchlinie verläuft mitten durch Europa

Kultur

Der Intendant der Wiener Festwochen über europäisches Theater, die klassische Tragödie, Antisemitismus und die Rolle Europas im Konflikt in Israel und Gaza

von Milo Rau

Wie jeder der 7 Kontinente ist Europa keine Realität, sondern eine Vision. Und wie bei jeder Vision ist die Gegenwart, um Nietzsche zu paraphrasieren, nur ein dünnes Seil, aufgespannt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Europa ist, was wir planen. Und es ist das, was uns widerfährt und widerfahren ist, was wir anderen angetan haben, im Guten wie im Schlechten.

Und vor allem ist Europa eine Vielheit, wie jeder Kontinent. Ich fahre ständig zwischen Belgien und Frankreich auf der einen Seite, Deutschland und Österreich auf der anderen Seite hin und her. Deutschland und Österreich – die Länder, die den Genozid an den Juden durchgeführt haben – sind zu Recht tief von ihrer Schuld geprägt bis in jede künstlerische Debatte hinein. Sobald ich aber nach Belgien oder Frankreich komme, drängt sich das Trauma der kolonialen Vergangenheit in den Vordergrund, die Millionen Toten etwa im ehemaligen Belgisch-Kongo oder in Französisch-Nordafrika.

Konflikte

Daher wird der Israel-Palästina-Krieg in den beiden Ländern vor allem als Besatzungskonflikt gelesen, als besonders schreckliches Kapitel einer jahrzehntelangen Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung. Die absolute Mehrheit der Gesellschaft steht auf der Seite Palästinas und fordert einen Boykott der ultranationalistischen Regierung Israels.

In Österreich und Deutschland ist es gerade andersherum: Kritik an der Politik Israels – wird sie in Zusammenhang mit BDS („Boycott, Divestment, Sanctions“, Anm.) gebracht, was bei der Omnipräsenz der Bewegung kaum zu vermeiden ist – ist per Parlamentsbeschluss in beiden Ländern verboten. Als ich die Französin Annie Ernaux und den Griechen Yanis Varoufakis in den Rat der Republik einlud, ein intellektuelles Beratungsgremium der Wiener Festwochen, wurden beide in deutschsprachigen Medien als Antisemit:innen bezeichnet.

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Nicht Antisemitismus

Nicht, weil Ernaux und Varoufakis die Auslöschung des jüdischen Volkes fordern würden, was sowohl Deutschland und Österreich in ihrer Geschichte explizit betrieben haben und wofür der Begriff ja steht. Varoufakis etwa schrieb vergangene Woche in einer Rede, die er wegen eines Einreiseverbots nach Berlin nicht halten konnte: „Der Antisemitismus ist eine klare und gegenwärtige Gefahr. Er muss ausgerottet werden, besonders in den Reihen der Globalen Linken und der Palästinenserinnen und Palästinenser.“ Nein, um Antisemitismus ging es hier nicht – auch nicht um die Hamas, die Varoufakis in der Rede klar und explizit verurteilt – sondern um europäische Kulturpolitik. Denn Ernaux und Varoufakis hatten, wie ihnen die Medien vorwarfen, unter anderem einen Brief zum Boykott des israelischen Beitrags bei der Venedig-Biennale unterzeichnet.

Nun gut: Ich bin weder mit Varoufakis noch mit Ernaux in dieser Sache einig und habe den Brief wie bekannt deshalb nicht unterzeichnet. Aber der Pavillon wurde dann von den israelischen Künstlerinnen selbst geschlossen – mit der Forderung an ihre Regierung, eine Feuerpause auszurufen, und an die Hamas, die Geiseln freizulassen. Denn die Künstlerinnen waren zu dem gleichen Schluss gekommen wie die UNO: Die Antwort der israelischen Armee auf das grässliche Massaker des 7. Oktober ist ohne jedes Maß und bedroht die physische Existenz der Palästinenser:innen im Gaza-Streifen. Dies muss ein Ende haben. Es geht nicht darum, …read more

Source:: Kurier.at – Kultur

      

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